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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Tag um Viertel vor vier zum Tor, um die zweite Postlieferung zu holen. Sie wollen doch nicht, dass er Wind von Ihren Fluchtplänen kriegt.»
    «Sie scheinen bestens informiert zu sein.»
    «Ich war auch mal Schlosser, damals, nach der Armee. In der Sicherheitsbranche kommt man häufig mit Kleinkriminellen in Kontakt. Wildhüter, Wilderer und so weiter. Nicht dass ich jemals selber etwas Illegales getan hätte, nein, ich war immer eine ehrliche Haut. Aber ich habe gelernt, dass gut drei viertel aller Gefängnisausbrüche in die Hose gehen, weil alle grauen Zellen», er tippte sich an die Stirn, «für die Flucht verschwendet werden. Amateure reden von Strategien, Profis reden von Logistik. Das raffinierte Elektronikschloss am Tor könnte ich zum Beispiel mit verbundenen Augen auseinander nehmen, wenn mir danach wäre, aber was ist mit dem Fluchtauto auf der anderen Seite? Mit Geld? Schlupflöchern? Sehen Sie, was ohne Logistik passiert? Baden gehen Sie, und fünf Minuten später liegen Sie hinten in Withers’ Transporter.»
    Mr.   Meeks verzog sein hutzeliges Gesicht und brachte mühsam die beiden einzigen verständlichen Wörter hervor, die ihm geblieben waren: «Ich weiß! Ich weiß !»
    Bevor ich ausmachen konnte, ob Ernie Blacksmith mich warnen oder aushorchen wollte, öffnete sich die Innentür, und Veronica erschien mit einem betörend scharlachroten Hut. Fast hätte ich mich vor ihr verneigt. «Guten Tag, Mrs.   Costello.»
    «Mr.   Cavendish, wie reizend. Spazieren gewesen bei dieser schneidenden Kälte?»
    «Kundschaften war er», sagte Ernie, «für sein Ein-Mann-Fluchtkomitee.»
    «Ach, wenn Sie erst einmal feierlich in den Kreis der Alten aufgenommen sind, will die Welt Sie nicht zurückhaben.» Veronica ließ sich auf einem Rattanstuhl nieder und rückte ganz leicht ihren Hut zurecht. «Wir – womit ich alle über sechzig meine – machen uns allein durch unser Vorhandensein zweier Vergehen schuldig. Das erste heißt Geschwindigkeitsunterschreitung. Wir fahren zu langsam, gehen zu langsam, sprechen zu langsam. Die Welt macht Geschäfte mit Drogenbaronen, Diktatoren und verderbten Gestalten jeglicher Couleur, aber aufgehalten werden, das erträgt sie nicht. Unser zweites Vergehen ist, dass wir jedermanns Memento mori sind. Die Welt kann sich nur dann in seliger Verleugnung einrichten, wenn wir unsichtbar sind.»
    «Veronicas Eltern verbüßten lebenslängliche Haftstrafen in der Intelligenzija», bemerkte Ernie nicht ohne eine Spur von Stolz.
    Sie lächelte liebevoll. «Seht euch doch die Menschen an, die zu den Besuchszeiten hierher kommen! Sie sind so geschockt, dass sie behandelt werden müssen. Wozu sonst das ewige Geschwätz von ‹Man ist so alt, wie man sich fühlt!›? Wem wollen sie damit etwas vormachen? Nein, nicht uns – sich selbst!»
    «Wir Alten sind die modernen Aussätzigen», resümierte Ernie. «Das ist die ganze Wahrheit.»
    «Ich bin kein Aussätziger!», widersprach ich. «Ich besitze einen Verlag und muss wieder zurück an die Arbeit. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie mir glauben, aber ich werde hier tatsächlich gegen meinen Willen festgehalten.»
    Ernie und Veronica tauschten in ihrer Geheimsprache Blicke aus.
    « Sind Sie Verleger? Oder waren Sie es, Mr.   Cavendish?»
    «Bin. Mein Büro befindet sich am Haymarket.»
    «Aber was», wandte Ernie nicht ganz unberechtigt ein, «tun Sie dann bloß hier?»
    Tja, das war die große Frage. Ich erzählte ihnen von A bis Z meine seltsame Geschichte. Ernie und Veronica hörten mir zu wie zwei geistig intakte, aufmerksame Erwachsene. Mr.   Meeks döste ein. Ich war bis zu meinem Schlaganfall gekommen, als ich durch Geschrei von draußen unterbrochen wurde. Ich glaubte schon, einer der Untoten hätte einen Anfall erlitten, doch ein Blick durch den Türspalt zeigte mir, dass der Fahrer des jupiterroten Range Rovers in sein Handy brüllte. «Ist das unser Problem?» Ernüchterung verzerrte sein Gesicht. «Sie hat sie nicht mehr alle! Sie glaubt, es ist 1966! … Nein, sie spielt kein Theater! Würdest du dir aus Jux in die Hose machen? … Nein, hat sie nicht. Sie hielt mich für ihren ersten Mann. Sie hat gesagt, sie hätte keine Söhne … Was soll das heißen, ödipal? … Ja, ich habe es nochmal geschildert. Dreimal … Ausführlich, ja . Versuch’s doch selber, wenn du meinst, du kannst es besser … Tja, für mich hat sie sich auch nie interessiert. Aber bring Parfüm mit … Nein, für dich . Sie stinkt … Wonach

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