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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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meinen Mottenkugeln … doch dann wachte ich wie immer auf, mein geschwollenes Anhängsel so willkommen wie ein geschwollener Appendix und ebenso nützlich. Sechs Uhr. Die Heizungsanlage komponierte Musik von John Cage. Frostbeulen verbrannten mir die Zehen. Ich dachte an vergangene Weihnachtsfeste, so ungleich zahlreicher als die, die noch vor mir lagen.
    Wie viele Morgen musste ich noch aushalten?
    «Nur Mut, TC. Ein knallroter Postzug befördert deinen Brief gen Süden in den Schoß von Mutter London. Die Bombe explodiert, und die Splitter fliegen bis zur Polizei, den Leuten von der Fürsorge, der alten Haymarket-Adresse z. H. Mrs.   Latham. Du wirst im Nu hier raus sein.» Meine Phantasie zeigte mir die verspäteten Weihnachtsgeschenke, mit denen ich meine Freiheit feiern würde. Zigarren, alter Whisky, eine Tändelei mit der kleinen Miss Muffet von der Hotline, neunzig Pence pro Minute. Darf’s nicht noch ein bisschen mehr sein? Ein Revanchematch in Thailand mit Guy dem Guten und Käpt’n Viagra?
    Am Kaminsims hing eine ausgebeulte Wollsocke. Als ich das Licht ausgemacht hatte, war er noch nicht da gewesen. Wer könnte sich in mein Zimmer geschlichen haben, ohne mich aufzuwecken? Ernie, um einen weihnachtlichen Waffenstillstand auszurufen? Wer sonst? Der gute Ernie! Ich stand wohlig fröstelnd auf und holte den Strumpf zu mir ins Bett. Er war federleicht. Ich stülpte ihn um, und es regnete Papierschnipsel. Meine Handschrift, meine Worte, meine Sätze!
    Mein Brief!
    Meine Rettung, zerrissen. Ich schlug mir auf die Brust, knirschte mit den Haaren, raufte mir die Zähne und drosch auf die Matratze ein, bis mir das Handgelenk wehtat. Reverend Ratte Rooney, in der Hölle sollst du verrotten! Natter Noakes, das bigotte Biest! Sie hatte an meinem Bett gestanden und mir beim Schlafen zugesehen wie ein Todesengel! Verfluchte Weihnachten, Mr.   Cavendish!
    Ich kapitulierte. Kapitulieren: Verb, im 18. Jahrhundert aus frz . capituler entlehnt, das auf mlat. capitulare zurückgeht, ein Grundbedürfnis menschlichen Daseins, besonders des meinen. Ich kapitulierte vor den beschränkten Pflegehelferinnen. Ich kapitulierte vor dem Geschenkanhänger: «Für Mr.   Cavendish von seinen neuen Freunden – mögen in Haus Aurora noch viele Weihnachtskerzen für Sie brennen!» Ich kapitulierte vor meinem Geschenk: ein «Wunder der Natur»-Kalender, zwei Monate auf einem Blatt. (Todesdatum noch nicht vermerkt.) Ich kapitulierte vor dem Gummitruthahn, der künstlichen Füllung, dem bitteren Rosenkohl, dem geräuschlosen Weihnachts-Knallbonbon (bloß keine Herzanfälle, schlecht fürs Geschäft), mit dem winzigen Kreppkrönchen, der näselnden Eunuchenflöte, dem harmlosen Witz (Barkeeper: «Was darf’s sein?» Skelett: «Ein großes Helles und einen Wischmopp bitte.») Ich kapitulierte vor den extra zu Weihnachten mit Gewalt gespickten Seifenopern und vor Queenies Ansprache aus dem Grab. Als ich auf dem Rückweg vom Pinkeln Schwester Noakes begegnete, kapitulierte ich vor ihrem triumphalen «Frohes Fest, Mr.   Cavendish!».
    Am Nachmittag kam auf BBC2 eine Dokumentation mit historischen Aufnahmen aus dem Ypern von 1919. Diese scheußliche Karikatur einer einstmals schönen Stadt war der Spiegel meiner Seele.
     
    Drei- oder viermal nur erhaschte ich während meiner Jugend einen Blick auf die Inseln der Glückseligkeit, bevor sie in Nebeln, Depressionen, Kaltfronten, ungünstigen Winden und im widrigen Strom der Gezeiten untergingen … Ich verwechselte sie mit dem Erwachsensein. Im Glauben, sie wären festgelegte Etappen auf meiner Lebensreise, versäumte ich, ihre geographischen Koordinaten und die Anfahrtsroute zu verzeichnen. Verfluchter junger Dummkopf. Was gäbe ich heute dafür, eine festgeschriebene Karte des für immer Flüchtigen zu besitzen. Einen Atlas der Wolken, sozusagen.
     
    Ich hielt bis zum zweiten Weihnachtstag durch, weil ich zu elend war, mich aufzuhängen. Nein, das ist gelogen. Ich hielt bis zum zweiten Weihnachtstag durch, weil ich zu feige war, mich aufzuhängen. Das Mittagessen bestand aus Truthahnbrühe (mit halbgaren Linsen) und wurde einzig durch die Suche nach Deirdres (der androgyne Roboter) verlegtem Handy belebt. Die Zombies hatten ihren Spaß dabei, sich zu überlegen, wo es sein könnte (in den Sofaritzen), wo wahrscheinlich nicht (im Weihnachtsbaum) und wo möglicherweise (in Mrs.   Birkins Bettpfanne). Zu meiner eigenen Überraschung klopfte ich wie ein reumütiger Hund an die Tür zum

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