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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Mal erkannte ich den fundamentalen Fehler, der in Patiencen steckt: Der Ausgang des Spiels entscheidet sich nicht in seinem Verlauf, sondern vorher, beim Mischen der Karten. Kann es etwas Witzloseres geben?
    Nun, der Witz dabei ist, dass man seine Gedanken an einen anderen Ort spazieren führen kann. Dieser Ort sah nicht rosig aus. Denholme war schon einige Zeit tot, aber ich saß immer noch in Haus Aurora fest. Ich entwarf ein neues Schreckensszenario, in dem Denholme, sei es aus Gefälligkeit oder aus Bösartigkeit, meine Unterbringung in Haus Aurora per Dauerauftrag von einem seiner Mauschelkonten überweist. Denholme stirbt. Da meine Flucht vor den Hoggins im Geheimen vonstatten ging, weiß niemand, dass ich hier bin. Der Dauerauftrag hat seinen Schöpfer überlebt. Mrs.   Latham erzählt der Polizei, ich sei das letzte Mal gesehen worden, als ich zu einem Kredithai wollte. Kommissar Schwer von Kapee vermutet, ich sei vom Kreditgeber der letzten Instanz abgewiesen worden und mit dem Eurostar verduftet. Heißt, fünf Wochen später sucht keine Menschenseele mehr nach mir, nicht einmal die Hoggins.
    Ernie und Veronica kamen an meinen Tisch. «Ich habe das Telefon benutzt, um die Kricketergebnisse abzufragen.» Ernie war vergrätzt. «Jetzt wird es abends eingeschlossen.»
    «Schwarze Zehn auf roten Buben», riet Veronica. «Mach dir nichts draus, Ernie.»
    Ernie ging nicht darauf ein. «Die Noakes wird alles daransetzen, Sie zu lynchen.»
    «Was kann sie schon groß unternehmen? Mir die Weizenküchlein zum Frühstück streichen?»
    «Sie wird Ihnen was ins Essen mischen! Wie beim letzten Mal.»
    «Wovon reden Sie da, um Himmels willen?»
    «Erinnern Sie sich noch, als Sie ihr das letzte Mal auf den Schlips getreten sind?»
    «Wann?»
    «Na, an dem Morgen, als Sie genau im passenden Moment Ihren Schlaganfall hatten.»
    «Wollen Sie etwa behaupten, mein Schlaganfall wurde … künstlich herbeigeführt?»
    Ernies Gesicht nahm einen äußerst ärgerlichen «Hallo, aufwachen!»-Ausdruck an.
    «Ach, Quatsch mit Soße! Mein Vater starb an einem Schlaganfall, mein Bruder wahrscheinlich auch. Lassen Sie Ihre Wahrheit von mir aus als Buch drucken, Ernest, aber verschonen Sie Veronica und mich damit.»
    Ernie starrte finster vor sich hin. (Lars, weniger Licht bitte.) «Aye. Sie halten sich für so verdammt clever, dabei sind Sie bloß ein blasierter Klopskopf aus dem Süden.»
    «Lieber ein Klopskopf, was immer das sein mag, als ein Schwanzeinzieher.» Ich wusste, dass ich das noch bereuen würde.
    «Schwanzeinzieher? Ich? Sagen Sie das nochmal. Na los!»
    «Schwanzeinzieher.» (Ach, Alb der Perversheit! Warum überlasse ich dir das Reden?) «Ich sehe das so. Sie haben die wirkliche Welt außerhalb dieses Gefängnisses abgeschrieben, weil sie Ihnen Angst einjagt. Einem anderen bei der Flucht zuzusehen würde Ihnen auf unliebsame Weise Ihre Neigung zum Sterbebett vor Augen führen. Darum bekommen Sie jetzt einen Wutanfall.»
    Ernies Gaskocher flammte auf. «Es steht Ihnen nicht zu, über meine Grenzen zu urteilen, Timothy Cavendish!» (Ein Schotte kann aus einem absolut ehrbaren Namen einen verbalen Kopfstoß machen.) « Sie könnten nicht einmal aus einem Gartenmarkt fliehen!»
    «Wenn Sie einen idiotensicheren Plan haben, lassen Sie hören.»
    Veronica versuchte zu schlichten. «Meine Herren!»
    Ernie war auf hundertachtzig. «Ob idiotensicher, hängt ganz von der Größe des Idioten ab.»
    «Sehr geistreiche Homilie.» Mein Sarkasmus widerte mich an. «In Schottland sind Sie sicher ein Genie.»
    «Nein, Genies sind in Schottland Engländer, die sich irrtümlich in ein Altersheim sperren lassen.»
    Veronica sammelte die ausgelegten Spielkarten ein. «Weiß jemand, wie die Uhrenpatience geht? Muss man dafür fünfzehn Päckchen auslegen?»
    «Veronica, wir gehen», knurrte Ernie.
    «Nein», blaffte ich und stand auf, weil ich zu meinem eigenen Besten verhindern wollte, dass Veronica sich zwischen uns entscheiden musste. « Ich gehe.»
    Ich schwor mir, den Heizungsraum nicht eher wieder zu betreten, bis ich eine Entschuldigung erhalten hatte. Also ging ich weder an diesem Nachmittag hin noch am nächsten, noch am übernächsten.
     
    Die ganze Weihnachtswoche über würdigte mich Ernie keines Blickes. Veronica lächelte mir im Vorbeigehen des Öfteren bedauernd zu, doch es war klar, wem ihre Loyalität gehörte. Im Nachhinein kann ich nur staunen. Was bildete ich mir eigentlich ein? Meine beiden einzigen Freundschaften aufs

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