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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Frau: «Wer ist denn da, Johns?»
    «Meine Güte! Wirklich?»
    «Ja.»
    «Aber was … was hat sie denn?»
    «Eine akute Pleuritis.»
    «Pleuritis?»
    Vielleicht war die Identifikation mit meiner Rolle einen Tick größer als mein medizinisches Fachwissen. «Eine Healey’sche Pleuritis kann bei einem Menschen im Alter Ihrer Mutter jederzeit auftreten, Mr.   Hotchkiss. Ich werde Ihnen die Diagnose erläutern, sobald Sie hier sind. Ihre Mutter fragt nach Ihnen. Ich habe ihr zwanzig ml, äh, Morphadin-50 gespritzt, um sie schmerzfrei zu halten. Es ist eigenartig, aber sie spricht die ganze Zeit von Schmuck. Immer wieder flüstert sie: ‹Ich muss es Johns sagen, ich muss es Johns sagen …› Können Sie damit etwas anfangen?»
    Der Augenblick der Wahrheit.
    Angebissen! «O Gott, sind Sie sicher? Erinnert sie sich, wo sie ihn hingelegt hat?»
    Die Frau im Hintergrund fauchte: «Was? Was?»
    «Es scheint ihr furchtbar wichtig zu sein, dass der Schmuck in der Familie bleibt.»
    «Natürlich, natürlich, aber wo ist er, Herr Doktor? Wo hat sie ihn versteckt?»
    «Ich muss jetzt wieder zu ihr, Mr.   Hotchkiss. Wir treffen uns unten am Empfang … Wann?»
    «Fragen Sie sie, wo … nein, sagen Sie ihr – sagen Sie Mami, sie soll … hören Sie, Doktor – äh …»
    «Äh … Conway! Conway.»
    «Dr.   Conway, könnten Sie meiner Mutter den Hörer an den Mund halten?»
    «Ich bin Arzt, kein Telefondienst. Kommen Sie her. Dann kann sie es Ihnen selber sagen.»
    «Sagen Sie ihr … sie soll um Himmels willen durchhalten, bis wir da sind. Sagen Sie ihr … Pipkins hat sie sehr, sehr lieb. Ich bin gleich da … halbe Stunde.»
    Das Ende vom Anfang. Ernie zog den Reißverschluss seiner Tasche zu. «Gut gemacht. Behalten Sie das Telefon, falls er zurückruft.»
     
    Der zweite Dominostein sah vor, dass ich in Mr.   Meeks’ Zimmer Wache hielt und durch den Türspalt spähte. Wegen seines fortgeschrittenen Verfalls war unser treues Heizungsraummaskottchen beim großen Ausbruch nicht dabei, aber sein Zimmer lag gegenüber von meinem, und er verstand das Wort «Pst!». Um Viertel nach zehn ging Ernie zur Rezeption, um Schwester Noakes von meinem Ableben zu unterrichten. Dieser Dominostein konnte in viele unerfreuliche Richtungen fallen. (Die Frage, wer die Leiche und wer den Boten geben sollte, war ausgiebig erörtert worden: Veronicas Tod hätte Ernie eine ihn überfordernde schauspielerische Leistung abverlangt, damit die Xanthippe keinen Verdacht schöpfte; Ernies Tod und dessen Meldung durch Veronica schied wegen ihres Hangs zur Theatralik aus; sowohl Ernie als auch Veronica wohnten zwischen Untoten, die ihrer Sinne noch so weit mächtig waren, uns unter Umständen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Mein Zimmer befand sich hingegen im alten Schultrakt, und mein einziger Nachbar war Mr.   Meeks. Also wurde der Part des Todeskandidaten mir zugeteilt.) Das große Fragezeichen war der unverhohlene Hass, den Schwester Noakes für mich empfand. Würde sie unverzüglich zu ihrem gefallenen Feind eilen und mir eine Hutnadel in den Hals bohren, um sich so meines tatsächlichen Todes zu versichern? Oder würde sie vorher im großen Stil feiern?
     
    Schritte. Ein Klopfen an meiner Zimmertür. Schwester Noakes, den Köder witternd. Der dritte Dominostein wankte, doch es schlichen sich schon erste Ungenauigkeiten ein. Eigentlich hatte Ernie sie bis an die Tür meines Sterbezimmers begleiten sollen. Sie musste ihm davongeeilt sein. Von meinem Versteck aus beobachtete ich, wie das Raubtier in mein Zimmer spähte. Sie knipste das Licht an. Der klassische Kissenstapel unter der Bettdecke, realistischer, als man vielleicht glauben möchte, lockte sie herein. Ich rannte über den Flur und zog die Tür zu. Von diesem Moment an hing Dominostein drei allein von der Schließvorrichtung ab – der Außenriegel klemmte, und bevor ich ihn umdrehen konnte, hatte die Noakes den Fuß gegen den Rahmen gestemmt und zog mit so dämonischer Kraft an der Tür, dass mir fast der Bizeps aus dem Arm sprang und meine Handgelenke abzureißen drohten. Der Sieg, das wusste ich, würde nicht auf meiner Seite sein.
    Also ging ich auf volles Risiko und ließ abrupt den Türgriff los. Die Tür flog auf, und die Hexe segelte rückwärts ins Zimmer. Bevor sie zur nächsten Attacke ansetzen konnte, hatte ich die Tür wieder zugezogen und verriegelt. Ein Schwall Drohungen à la Titus Andronicus prasselte gegen die Tür. Sie suchen mich noch heute in

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