Der Wolkenatlas (German Edition)
Heizungsraum.
Ernies Kopf tauchte hinter einer zerlegten Waschmaschine auf. «Na, sieh mal einer guck.»
«Schönen zweiten Weihnachtsfeiertag, Mr. Cavendish», sagte Veronica strahlend. Sie trug eine Pelzmütze à la Romanow; in ihrem Schoß lag ein dicker Lyrikband. «Treten Sie doch ein!»
«Ist ja schon ein paar Tage her», untertrieb ich verlegen.
«Ich weiß !», nölte Mr. Meeks. «Ich weiß !»
Ernie strahlte weiterhin Verachtung aus.
«Äh … darf ich reinkommen, Ernie?»
Durch ein leichtes Heben und Senken des Kinns demonstrierte er seine Gleichgültigkeit. Er nahm mal wieder den Kessel auseinander, zwischen seinen fleischigen, ölverschmierten Fingern steckten winzige silberne Schrauben. Er machte es mir nicht leicht. «Ernie», sagte ich schließlich, «tut mir leid wegen neulich.»
«Aye.»
«Wenn Sie mir nicht hier raushelfen … verliere ich den Verstand.»
Er zerlegte ein Teil, das ich nicht einmal benennen konnte. «Aye.»
Mr. Meeks schaukelte vor und zurück.
«Also … was meinen Sie?»
Er ließ sich auf einem Düngersack nieder. «Ach, seien Sie nicht blöd.»
Ich glaube, ich hatte seit der Frankfurter Buchmesse nicht mehr gelächelt. Mein Gesicht tat weh.
Veronica rückte neckisch ihren Hut zurecht. «Nenn ihm unser Honorar, Ernest.»
«Alles, alles.» Ich hatte es noch nie so ernst gemeint. «Wie lautet Ihr Preis?»
Ernie ließ mich schmoren, bis der letzte Schraubenzieher in der Werkzeugtasche verstaut war. «Veronica und ich haben beschlossen, uns zu neuen Ufern vorzuwagen.» Er deutete mit einem Nicken auf das Tor. «Nach Norden. Ich habe dort einen alten Freund, der uns behilflich sein wird. Das heißt, Sie werden uns mitnehmen.»
Damit hatte ich nicht gerechnet, aber warum nicht? «Gerne, gerne. Mit Freuden.»
«Also abgemacht. Tag X ist heute in drei Tagen.»
«So bald? Haben Sie denn schon einen Plan?»
Der Schotte zog die Nase hoch, schraubte seine Thermoskanne auf und goss bitter riechenden schwarzen Tee in den dazugehörigen Becher. «Könnte man so sagen, aye.»
Ernies Plan war eine äußerst riskante Dominostein-Kettenreaktion. «Jeder Fluchtplan», dozierte er, «muss raffinierter sein als Ihre Wärter.» Raffiniert war er, um nicht zu sagen verwegen, doch wenn auch nur ein einziger Dominostein in die falsche Richtung kippte, würden wir sofort auffliegen, eine Katastrophe mit verheerenden Folgen, vor allem, wenn Ernies schaurige Theorie über zwangsverabreichte Medikamente der Wahrheit entsprach. Im Nachhinein staune ich, dass ich mich darauf einließ. Die Dankbarkeit, die ich empfand, weil meine Freunde wieder mit mir redeten, und mein verzweifelter Wunsch, Haus Aurora – lebend – zu verlassen, unterdrückten, anders kann ich es mir nicht erklären, meine natürliche Besonnenheit.
Die Wahl fiel auf den 28. Dezember, denn Ernie wusste von Deirdre, dass Mrs. Judd an diesem Tag zu Nichten und Krippenspiel nach Hull fuhr. «Kluge Vorarbeit.» Ernie tippte sich auf die Nase. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, Withers oder die Hyäne Noakes hätten das Feld geräumt, aber Withers verließ das Heim nur im August, wenn er seine Mutter in der Robin Hood Bay besuchte, und Ernie hielt Mrs. Judd für die Vernünftigste und somit auch Gefährlichste.
Tag X. Um zehn, eine halbe Stunde nachdem die Untoten ins Bett gesteckt worden waren, meldete ich mich in Ernies Zimmer. «Letzte Chance, einen Rückzieher zu machen, falls Sie Muffensausen haben», begrüßte mich der listige Schotte.
«Ich habe mein Lebtag noch keinen Rückzieher gemacht», erwiderte beziehungsweise log ich durch meine fauligen Zähne. Ernie schraubte die Lüftung auf und holte Deirdres Handy aus seinem Versteck. «Sie haben den vornehmsten Akzent», hatte er mir mitgeteilt, als es um die Verteilung der Rollen gegangen war, «außerdem verdienen Sie Ihr Geld damit, andere am Telefon einzuseifen.» Ich wählte die Nummer von Johns Hotchkiss, die Ernie schon vor Monaten aus dem Adressbuch seiner Mutter abgeschrieben hatte.
Eine verschlafene Stimme meldete sich. «Was’n los?»
«Äh, ja, Mr. Hotchkiss?»
«Am Apparat. Wer spricht da?»
Leser, Sie wären stolz auf mich gewesen. «Dr. Conway, Haus Aurora. Ich vertrete Dr. Upward.»
«Ach, du liebe Zeit, ist etwas mit meiner Mutter?»
«Leider, Mr. Hotchkiss, leider. Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ich glaube nicht, dass sie die Nacht überstehen wird.»
«Nein! Nein?»
Im Hintergrund rief eine
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