Der Wolkenatlas (German Edition)
aufhören.
Bill Smoke dreht sich schnaufend um. Was denn, Joe?
Sie haben gesagt, sie ist nicht zu Hause!
Nein, nein, da haben Sie was falsch verstanden. Ich habe gesagt, mein Kontaktmann sagt, sie ist nicht zu Hause. Verlässliche Mitarbeiter sind schwer zu finden.
Verdammt, verdammt, ist sie tot?
Vorsicht ist besser als Nachsicht, Joe.
Hübsch arrangiert , gesteht sich der schlaflose Napier in seiner Blockhütte ein. Die Falle der Folgsamkeit. Beteiligung am brutalen Überfall auf eine alte, wehrlose Aktivistin? Jeder abgebrochene Jurastudent mit Sprachfehler könnte ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringen. Eine Amsel singt. Ich habe Margo Roker großes Unrecht getan, aber dieses Leben habe ich hinter mir gelassen. Vier kleine Einschussnarben, zwei in jeder Pobacke, tun ihm weh. Ich habe mich in eine prekäre Lage gebracht, um Luisa Rey zur Vernunft zu bringen. Das Fenster ist hell genug, sodass er Milly in ihrem Rahmen erkennen kann. Ich bin nur ein Einzelner, rechtfertigt er sich. Ich bin kein Polizeiaufgebot. Leben ist alles, was ich vom Leben will. Und ein bisschen angeln.
Joe Napier seufzt, zieht sich an und packt seine Sachen in den Jeep.
Mit ihrem Schweigen hat Milly immer gesiegt.
56
Judith Rey bindet ihren Kimono zu und geht barfuß über den großen byzantinischen Teppich in die marmorgeflieste Küche. Sie nimmt drei rote Grapefruits aus dem Kühlschrank, schneidet sie in der Mitte durch und verfüttert die eiskalten, tropfenden Halbkugeln an die Saftpresse. Während das Gerät summt wie ein Wespenschwarm, läuft dicke, bonbonrosa Flüssigkeit in den Behälter. Sie gießt den Saft in ein schweres blaues Glas und spült sich gründlich den Mund aus.
Luisa sitzt auf dem gestreiften Verandasofa und überfliegt ein Croissant kauend die Zeitung. Die herrliche Aussicht über die Dächer und samtigen Rasen des noblen Ewingsville auf die Wolkenkratzer, die im Zentrum von Buenas Yerbas aus Küstennebel und Pendlersmog aufragen, hat um diese Uhrzeit etwas Entrücktes.
«Bleibst du nicht im Bett, Cookie?»
«Morgen. Nein, ich will meine Sachen aus der Redaktion holen, falls es dir nichts ausmacht, wenn ich mir nochmal eins von euren Autos borge.»
«Nein, nein.» Judith Rey durchschaut ihre Tochter. «Du hast beim Spyglass nur dein Talent verschleudert, Cookie. Das ist doch ein Schmutzblättchen, mehr nicht.»
«Stimmt, Mom, aber es war mein Schmutzblättchen.»
Judith Rey setzt sich auf die Armlehne des Sofas und verscheucht eine dreiste Fliege von ihrem Glas. Ihr Blick fällt auf einen eingekringelten Artikel im Wirtschaftsteil.
«Energieguru» Lloyd Hooks neuer Seaboard-Chef
Wie das Weiße Haus und der Stromriese Seaboard Power in einer gemeinsamen Pressemitteilung erklärten, wird Energieminister Lloyd Hooks neuer Vorstandschef des Konzerns. Hooks übernimmt den Posten von Alberto Grimaldi, der vor zwei Tagen bei einem tragischen Flugzeugunglück ums Leben kam. Nach Bekanntgabe der Nachricht schoss der Kurs der Seaboard-Aktie an der Wall Street um 40 Prozent in die Höhe. «Wir freuen uns sehr, dass wir Lloyd für uns gewinnen konnten», sagte Seaboard-Vize William Wiley. «Trotz der überaus tragischen Umstände, die zu seiner Berufung führen, glaubt die Konzernleitung, dass Alberto im Himmel uns beipflichten wird, wenn wir unseren neuen, visionären Vorstandsvorsitzenden aufs herzlichste in unseren Reihen willkommen heißen.» Menzies Graham, Sprecher des Energieministeriums, sagte, die Regierung in Washington werde Hooks’ Sachverstand vermissen, Präsident Ford respektiere jedoch seinen Wunsch und hoffe auf eine fortdauernde Zusammenarbeit mit einem unserer klügsten Köpfe. Gemeinsam werde man sich den Herausforderungen stellen, mit denen sich unser großartiges Land im Energiezeitalter konfrontiert sehe. Mr. Hooks soll seine neue Aufgabe in der nächsten Woche antreten. Sein Nachfolger wird noch heute vom Weißen Haus bekannt gegeben.
«Hast du an dieser Sache gearbeitet?», fragt Judith.
«Ich arbeite immer noch daran.»
«Für wen?»
«Für die Wahrheit.» Die Ironie ihrer Tochter ist echt. «Ich bin jetzt Freie.»
«Seit wann?»
«Seit KPO mich gefeuert hat. Meine Entlassung hat politische Gründe, Mom. Sie beweist, dass ich an einer heißen Sache dran war. An einer sehr heißen.»
Judith Rey betrachtet die junge Frau. Früher hatte ich mal ein kleines Töchterchen. Ich steckte sie in Rüschenkleidchen, meldete sie zum Ballettunterricht an und
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