Der Wolkenatlas (German Edition)
Herbst tastet sich schon in die Gebirgswälder vor. Die Straße folgt unter uralten Kiefern einer sich verengenden Schlucht, dem Sonnenuntergang entgegen.
Alle Gedanken der letzten Dreiviertelstunde sind mit einem Male ausgelöscht. In Copperline hält Napier beim Lebensmittelladen, stellt den Motor aus und springt aus dem Jeep. Hörst du das Rauschen? Der verlorene Fluss. Das erinnert ihn daran, dass Copperline nicht Buenas Yerbas ist, und er schließt den Wagen wieder auf. Der Ladeninhaber begrüßt den Kunden mit Namen, versorgt ihn in sechs Minuten mit dem Klatsch der letzten sechs Monate und erkundigt sich, ob Napier die ganze Woche Urlaub hat.
«Ab heute habe ich immer Urlaub. Man hat mir den ….», er hat das Wort noch nie in den Mund genommen, «… vorzeitigen Ruhestand angeboten. Ich hab’s als einmalige Chance gesehen.»
Der Ladeninhaber betrachtet ihn mit allwissendem Blick. «Heute Abend feiern bei Duane? Oder morgen Beileidstreffen bei Duane?»
«Sagen wir Freitag. Ein bisschen von beidem. In erster Linie feiern. Ich will meine erste Woche in Freiheit in meiner Hütte verbringen, nicht besoffen unter einem von Duanes Tischen.» Plötzlich kann er es kaum erwarten, allein in seiner Blockhütte zu sein. Er bezahlt rasch seine Einkäufe und verlässt den Laden. Die Reifen des Jeeps knirschen auf dem steinigen Waldweg. Die Bäume tauchen im Scheinwerferlicht erhaben aus dem Dunkel auf.
Da . Wieder hört Napier den verlorenen Fluss. Er denkt an den Tag zurück, als er Milly zum ersten Mal mit in die Blockhütte nahm, die er mit seinem Vater und seinen Brüdern gebaut hat. Jetzt ist er der Einzige, der noch übrig ist. An jenem Abend hatten sie nackt im Fluss gebadet. Das war ihre Idee gewesen. Die abendliche Waldluft strömt in seine Lungen und in seinen Kopf. Kein Telefon, kein Kabelanschluss, nicht mal ein Fernseher, keine Ausweiskontrollen, keine «informellen» Meetings im schalldichten Büro des Chefs. Nie mehr. An der Haustür überzeugt sich der pensionierte Sicherheitsdienstler, ob sich jemand am Vorhängeschloss zu schaffen gemacht hat. Erst dann öffnet er die Fensterläden. Herrgott nochmal , beruhige dich. Seaboard hat dich ungehindert gehen lassen, ohne Bedingungen, Rückkehr ausgeschlossen.
Trotzdem liegt die .38er in seiner Hand, als er das Haus betritt. Siehst du? Niemand da. Napier macht ein prasselndes Feuer und kocht sich Bohnen mit Würstchen und verrußten Folienkartoffeln. Ein paar Biere. Langes Pinkeln in der freien Natur. Die funkelnde Milchstraße. Tiefer, tiefer Schlaf.
Schon wieder aufgewacht , völlig ausgetrocknet, die Blase vom vielen Bier geschwollen. Zum fünften Mal oder zum sechsten? Die nächtlichen Geräusche des Waldes lullen ihn nicht wie sonst in den Schlaf, sondern kratzen an seinem Nervenkostüm. Bremsgeräusche? Ein Elfenkäuzchen. Knackende Zweige? Eine Ratte, eine Bergwachtel, keine Ahnung, du bist im Wald, das kann alles Mögliche sein. Schlaf weiter, Napier. Der Wind. Stimmen unter dem Fenster? Plötzlich sieht er über sich auf dem Dachbalken einen Puma; er schreckt mit einem Schrei aus dem Schlaf auf; der Puma war Bill Smoke, den Arm erhoben, um ihm mit seiner Taschenlampe den Schädel einzuschlagen; der Dachbalken ist leer. Regnet es? Napier lauscht.
Der Fluss, nur der Fluss.
Er ratscht ein Streichholz an und sieht nach, ob es sich lohnt, schon aufzustehen: fünf nach vier. Nein. Weder Nacht noch Tag. Napier schmiegt sich in die alles umhüllende Finsternis, um endlich seinen Schlaf zu finden, aber helle Erinnerungen an Margo Rokers Haus verfolgen ihn. Bill Smoke flüstert: Sie halten Wache. Mein Kontaktmann sagt, sie bewahrt die Dokumente in ihrem Schlafzimmer auf. Napier willigt ein, froh, dass er sich so wenig wie möglich beteiligen muss. Bill Smoke macht seine schwere Gummitaschenlampe an und geht nach oben.
Napier sucht mit Blicken den Garten ab. Das nächste Haus liegt über eine halbe Meile entfernt. Er überlegt, warum Alleingänger Smoke ihn bei diesem einfachen Job unbedingt dabeihaben wollte.
Ein schwacher Schrei. Ein abruptes Ende.
Napier rennt die Treppe hinauf, rutscht aus, eine Reihe leerer Zimmer.
Bill Smoke kniet auf einem alten Bett, drischt mit der Taschenlampe auf etwas ein, der Lichtstrahl huscht über Decke und Wände, das fast tonlose, dumpfe Geräusch, mit dem die Lampe den Kopf der besinnungslosen Margo Roker trifft. Blut auf der Bettwäsche – feucht und ekelhaft dunkelrot.
Napier schreit ihn an, er soll
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