Der Wolkenatlas (German Edition)
den Bericht und dann das Versteck verstecken? Sie kommt zum Flanders Boulevard und erblickt direkt vor sich die Third Bank of California. Daneben befindet sich ein Kundenparkplatz. Den zerbeulten schwarzen Chevy, der auf der anderen Straßenseite parkt, bemerkt Luisa nicht.
60
Fay Li, mit Sonnenhut und verspiegelter Sonnenbrille, vergleicht ihre Armbanduhr mit der Uhr in der Bank. Die Klimaanlage verliert den Kampf gegen die Vormittagssonne. Fay Li tupft sich mit einem Taschentuch die Schweißperlen von Gesicht und Unterarmen, fächelt sich Luft zu und resümiert die Lage. Joe Napier, du wirkst einfältig, aber in Wahrheit bist du clever, clever genug, um zu wissen, wann man aussteigen muss. Luisa Rey müsste jeden Augenblick hier sein, sofern auf Bill Smoke Verlass ist. Bill Smoke, du wirkst clever, aber in Wahrheit bist du einfältig, und deine Leute sind nicht so loyal, wie du denkst. Weil du es nicht wegen des Geldes tust, hast du vergessen, wie leicht Normalsterbliche sich kaufen lassen.
Zwei gut gekleidete Chinesen betreten die Bank. Der Blick des einen verrät ihr, dass Luisa Rey im Anmarsch ist. Die drei treffen sich an einem Tisch, der den Zutritt zu einem Seitengang versperrt: SCHLIESSFÄCHER. Diese Einrichtung wird an diesem Vormittag nur wenig frequentiert. Fay Li hat mit dem Gedanken gespielt, einen Spitzel einzuschleusen, aber ein mies bezahlter und entsprechend nachlässiger Wachmann ist sicherer, als die Triaden an der Beute schnuppern zu lassen.
«Hi.» Fay Li bombardiert den Wachmann mit ihrem schlimmsten chinesischen Akzent. «Brüder und ich wollen zu Schließfach.» Sie wedelt mit einem Schlüssel. «Guck, wir haben Schlüssel.»
Der drahtige junge Mann mit dem pickligen Gesicht sieht sie gelangweilt an. «Ausweis?»
«Guck, hier Ausweis, hier.»
Die chinesischen Schriftzeichen entziehen sich mit uralter Stammesmagie dem prüfenden weißen Blick. Der Wachmann deutet mit dem Kopf den Gang hinunter und wendet sich wieder seinem Aliens! -Heft zu. «Ist offen.» Ich würde dich auf der Stelle feuern, Bürschchen , denkt Fay Li.
Der Gang endet vor einer Stahltür, die nur leicht angelehnt ist. Dahinter befindet sich in Form eines Dreizacks der Tresorraum. Fay Li und ein Komplize nehmen den linken Zacken, der andere auf ihre Weisung hin den rechten. Rund sechshundert Schließfächer. In einem davon liegt ein Fünf-Millionen-Bericht, jede einzelne Seite zehntausend Dollar wert.
Auf dem Gang sind Schritte zu hören. Klack, klack, die Absätze einer Frau .
Die Stahltür geht weit auf. «Ist hier jemand?», ruft Luisa Rey.
Stille.
Die Tür fällt ins Schloss, und im selben Moment stürzen sich die beiden Männer auf Luisa. Eine Hand drückt sich auf ihren Mund. «Herzlichen Dank.» Fay Li reißt der Reporterin den Schlüssel aus der Hand. Darauf ist die Nummer 36/64 eingraviert. Sie verliert nicht viele Worte. «Die schlechte Nachricht: Dieser Raum ist schallisoliert, unüberwacht, und meine Freunde und ich sind bewaffnet. Der Sixsmith-Bericht ist nicht für Ihre Hände bestimmt. Die gute Nachricht: Meine Auftraggeber wollen HYDRA im Keim ersticken und Seaboard in den Dreck ziehen. In zwei bis drei Tagen landen Sixsmiths Entdeckungen bei den großen Nachrichtensendern. Ob sie den Konzern damit vernichten, ist deren Sache. Sehen Sie mich nicht so an, Luisa. Die Wahrheit schert sich nicht darum, wer sie herausfindet, warum also Sie? Die besonders gute Nachricht: Ihnen wird nichts geschehen. Mein Mitarbeiter bringt Sie an einen Ort in BY, wo Sie eine Weile festgehalten werden. Heute Abend sind Sie ein freier Mensch. Sollten Sie uns allerdings weiterhin Schwierigkeiten machen», Fay Li zückt ein Foto von Javier, das an Luisas Pinnwand hing, und wedelt damit vor Luisas Gesicht herum, «werden wir uns entsprechend revanchieren.»
Der Trotz in Luisas Augen weicht Gehorsam.
«Ich wusste, dass Sie einen klugen Kopf auf den Schultern tragen.» Fay Li spricht den Mann, der Luisa festhält, auf Kantonesisch an. «Bring sie in das Versteck. Keine schmutzigen Sachen, bevor du sie erschießt. Sie ist zwar Reporterin, aber das macht noch keine billige Hure aus ihr. Die Leiche lässt du auf die übliche Weise verschwinden.»
Der Mann bringt Luisa weg. Der zweite Komplize bleibt und hält die Tür auf.
Fay Li findet Schließfach 36/64 am Ende des Mittelgangs, ungefähr in Schulterhöhe.
Der Schlüssel dreht sich, und die Tür springt auf.
Fay Li holt einen vanillegelben Ordner heraus. DER
Weitere Kostenlose Bücher