Der Wolkenatlas (German Edition)
riesigen Fasan, der mit seinen gebrochenen Flügeln flatterte. Dhondt stieß einen kunstvollen Fluch auf Sanskrit oder was weiß ich aus, gefolgt von einem Ha! , ebenso erleichtert wie bestürzt, weil er zwar keinen Menschen, aber doch ein Lebewesen getötet hatte. Hatte die Sprache verloren und tupfte mir die blutende Zunge mit einem Taschentuch ab. Schlug vor, den armen Vogel von seinem Leid zu erlösen. Dhondt antwortete mit einem Ausspruch, dessen Blödsinnigkeit möglicherweise beabsichtigt war: «Für die auf der Speisekarte ist die Sauce ohne Belang.» Er ging zurück zum Wagen und versuchte, den Motor wieder in Gang zu bringen. Begriff nicht, was er meinte, aber näherte mich vorsichtig dem Fasan, der nur um so verzweifelter flatterte. Sein glänzendes Brustgefieder war von Blut und Kot verklebt. Er weinte, Sixsmith, wie ein zwei Tage altes Baby. Wünschte mir, ich hätte ein Gewehr. Am Straßenrand lag ein Stein von der Größe meiner Faust. Schlug ihm damit den Kopf ein. Scheußlich – völlig anders, als einen Vogel zu schießen.
Wischte mir mit Ampferblättern, die ich am Straßenrand pflückte, so gut es ging das Blut ab. Dhondt hatte den Wagen angelassen, ich sprang hinein, und wir fuhren ins nächste Dorf. Ein unscheinbarer Ort, soweit ich erkennen konnte, aber es gab ein trostloses Café samt Autowerkstatt und Bestattungsinstitut. Eine Gruppe schweigender Dorfbewohner hielt sich darin auf, dazu jede Menge Fliegen, die im Kreis umherschwirrten wie benommene Todesengel. Durch das scharfe Bremsen hatte sich die Vorderachse des Bugatti verzogen, und M. D. hielt an, damit sich jemand darum kümmerte. Wir saßen im Freien an einem «Platz», in Wahrheit ein kopfsteingepflasterter Matschtümpel mit einem Sockel in der Mitte, dessen einstiger Bewohner schon vor langer Zeit zu Munition eingeschmolzen worden war. Ein paar schmutzige Kinder jagten die einzige fette Henne Belgiens über den Platz – sie flog hinauf auf den Sockel. Die Kinder warfen mit Steinen nach ihr. Überlegte, wo der Besitzer des Vogels wohl steckte. Ich fragte den Wirt, wer früher den Platz auf dem Sockel eingenommen habe. Er wußte es nicht, er stammte aus dem Süden. Mein Glas war schmutzig, und ich bat ihn, mir ein neues zu bringen. Er nahm Anstoß daran und war fortan weniger gesprächig.
M. D. erkundigte sich nach meinem Besuch auf dem Friedhof. Gab ihm keine richtige Antwort. Blutverschmierte, verstümmelte Fasane tauchten vor meinen Augen auf. Fragte M. D., wo er im Krieg gewesen sei. «Ach, wissen Sie, ich habe mich ums Geschäft gekümmert.» – «In Brügge?» fragte ich erstaunt, denn ich konnte mir nur schwerlich vorstellen, daß die Geschäfte eines belgischen Diamantenhändlers während der Besatzung des Kaisers floriert hatten. «Gütiger Himmel, nein», antwortete M. D., «Johannesburg. Meine Frau und ich waren den ganzen Krieg über dort.» Ich beglückwünschte ihn zu seiner Voraussicht. Bescheiden erklärte er: «Kriege flammen nicht ohne Vorwarnung auf. Sie beginnen als kleine Feuer am Horizont. Kriege ziehen herauf. Der kluge Mann hält nach Rauch Ausschau und bereitet sich vor, das Feld zu räumen, so wie Ayrs und Jocasta. Meine Sorge ist nur, daß der nächste Krieg so furchtbar sein wird, daß nicht ein einziger Ort mit anständigem Restaurant verschont bleibt.»
War er sich denn so sicher, daß es einen nächsten Krieg geben werde?
«Es gibt immer einen nächsten Krieg, Robert. Kriege werden niemals völlig ausgelöscht sein. Was entfacht einen Krieg? Der Wille zur Macht, das Rückgrat der menschlichen Natur. Die Androhung von Gewalt, die Furcht vor Gewalt oder tatsächlich ausgeübte Gewalt sind das Werkzeug dieses furchtbaren Willens. Sie können den Willen zur Macht in Schlafzimmern, Küchen, Fabriken, Gewerkschaften und an Landesgrenzen beobachten. Hören Sie gut zu und merken Sie sich meine Worte. Der Nationalstaat ist nichts weiter als die zu monströser Größe aufgeblasene Natur des Menschen. Folglich sind Staaten Gebilde, deren Gesetze mit Gewalt geschrieben werden. So war es immer, so wird es immer sein. Der Krieg, Robert, ist einer der zwei ewigen Weggefährten der Menschheit.»
Und welcher, fragte ich, sei der andere?
«Diamanten.» Ein Schlachter mit blutbeschmierter Schürze lief über den Platz, und die Kinder stoben davon. Nun stand er vor dem Problem, die Henne von ihrem Sockel herunterzulocken.
Und der Völkerbund? Staaten kannten doch sicher noch andere Gesetze als die der
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