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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Stephanie, Zenobe, Alphonsine und einem, dessen Name mir entfallen ist; die Kleinste neun, die Älteste, besagte Marie-Louise, ein Jahr älter als E. Alle Mädchen verfügen über ein gänzlich ungerechtfertigtes Selbstvertrauen. Das lange Sofa senkte sich unter dem Gewicht dieser Mastschweine. Während das Dienstmädchen Limonade brachte, begann Mme. ihr Verhör. «Eva erzählte uns, Ihre Familie habe großen Einfluß in Cambridge, Mr.   Frobisher?» Warf E. unauffällig einen Blick zu; sie machte ein gespielt interessiertes Gesicht. Verbarg mein Lächeln und gab zu, daß meine Familie im Domesday Book verzeichnet und Pater ein hochangesehener Geistlicher sei. Jeder meiner Versuche, das Gespräch von meiner Tauglichkeit wegzuführen, wurde vereitelt, und nach einer Viertelstunde wähnte sich die glupschäugige Marie-Louise der Zustimmung ihrer Mutter sicher und erkor mich zu ihrem Märchenprinzen. Sie fragte: «Mr.   Frobisher, sind Sie näher mit Sherlock Holmes aus der Baker Street bekannt?» Na, dachte ich, vielleicht ist der Tag doch noch zu retten. Ein Mädchen mit einem Gespür für Ironie muß über einigen Scharfsinn verfügen. Aber Marie-Louise meinte es ernst! Ein ausgemachter Holzkopf.
    Nein, erwiderte ich, ich kenne Mr.   Holmes nicht persönlich, aber man könne ihn und David Copperfield an jedem Mittwoch beim Billardspiel in meinem Club beobachten.
    Mittagessen von zartem Meißner Porzellan in einem Eßzimmer mit geblümter Tapete und großer Kopie des Letzten Abendmahls . Enttäuschend. Trockene Forelle, zu Matsch zerkochtes Gemüse, die Torte schlichtweg vulgär, kam mir vor, als speiste ich in London. Die Mädchen kicherten glissando über meine belanglosen Fehler im Französischen – dabei ist ihr Englisch eine unerträgliche Beleidigung für die Ohren. Mme. v. d. V., die den Sommer ebenfalls in der Schweiz verbracht hat, erzählte umständlich, wie Marie-Louise in Bern von der Gräfin Slãck-Jawský oder der Herzogin von Sümdümpstädt als «Blume der Alpen» gepriesen wurde. Bekam nicht einmal ein höfliches «Comme c’est charmant» über die Lippen.
    M. v. d. V. kehrte von der Arbeit heim. Stellte mir hundert Fragen über Kricket, um seine Töchter mit dem undurchschaubaren Regelwerk dieses kuriosen englischen Rituals zu amüsieren. Ein dumpfer Moralprediger königlicher Güte, so sehr damit beschäftigt, über seine nächste rüpelhafte Unterbrechung nachzudenken, daß er nie richtig zuhört. Seine schamlosen Selbstbeweihräucherungen beginnen mit «Nennen Sie mich altmodisch, aber …» oder «Manche halten mich für einen Snob, aber …» Eva gab mir mit einem sarkastischen Blick zu verstehen: «Und Sie haben ernsthaft geglaubt, dieser Banause könnte meinen guten Ruf bedrohen!»
    Nach dem Essen kam die Sonne heraus, und Mme. v. d. V. gab bekannt, die ganze Familie werde einen Spaziergang machen, um dem verehrten Gast Brügges Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Wandte ein, ich hätte ihre Gastfreundschaft schon zu sehr in Anspruch genommen, aber so leicht kam ich nicht davon. Der große Patriarch entschuldigte sich – er müsse noch einen Stapel Papiere von der Höhe des Matterhorns unterzeichnen. Möge er unter einer Lawine begraben werden. Nachdem die Dienstmädchen die Töchter behutet und behandschuht hatten, ließ man die Kutsche holen, und ich wurde von einer Kirche zur nächsten bugsiert. Wie der gute, alte Kilvert bemerkt, gibt es nichts Ermüdenderes, als wenn einem mit schulmeisterlichen Worten vorgeschrieben wird, was man zu bewundern hat. Kann mich kaum an den Namen einer einzigen Sehenswürdigkeit erinnern. Am Ende unserer Route, beim großen Uhrenturm, tat mir vom vielen unterdrückten Gähnen der Kiefer weh. Nach einem raschen Blick hinauf zur Turmspitze erklärte Mme. van de Velde, sie werde uns junge Leute allein hinaufsteigen lassen und derweil in der Patisserie gegenüber warten. Marie-Louise, die schon mehr wiegt als ihre Mutter, meinte, es sei nicht damenhaft, maman allein warten zu lassen. Blaustrumpf konnte wegen ihres Asthmas nicht mit, und wenn Blaustrumpf nicht mitkam usw. u. usw., bis schließlich nur Eva und ich übrigblieben. Ich bezahlte den Eintritt, weil ich ihr zeigen wollte, daß ich nicht sie für diesen grauenhaft vergeudeten Tag verantwortlich machte. Ging voran. Der Aufstieg verlief über eine stetig schmaler werdende Wendeltreppe. Als Handlauf diente ein Seil, gehalten von in die Mauer geschlagenen Eisenringen. Die Füße mußten sich allein

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