Der Wolkenatlas (German Edition)
bringen.
Ganz in meine Musik vertieft. So grausam es klingt, aber wenn Hendrick beim Frühstück erscheint und sagt: «Heute nicht, Robert», bin ich fast erleichtert. Die ganze Nacht an einem grollenden Cello-Allegro mit funkensprühenden Triolen gearbeitet. Stille durchbrochen von zuschnappenden Mausefallen. Erinnere mich, daß die Kirchturmuhr drei schlug. Da hörte ich ne Nachtschwalbe , sagt Huckleberry Finn, und n Hund heuln wegen einem, der am Sterben war . Hat mich immer verfolgt, diese Stelle. Auf einmal stand Lucille am sonnenbeschienenen Fenster und lüftete die Laken aus. Morty Dhondt sei unten, sagte sie, bereit für unseren Ausflug. Glaubte zu träumen, aber nein. Mein Gesicht war mit einer Kruste überzogen, und einen Augenblick lang hätte ich Dir nicht mal meinen Namen nennen können. Grunzte, ich würde mit Dhondt nirgendwo hinfahren, ich wolle weiterschlafen und hätte zu arbeiten. «Aber Sie haben sich letzte Woche zu einer Autofahrt verabredet!» wandte Lucille ein.
Ich erinnerte mich. Wusch mich, zog mir frische Sachen an und rasierte mich. Schickte Lucille nach dem Hausdiener, der meine Schuhe usw. putzt. Der freundliche Diamantenhändler saß zigarrerauchend im Frühstückszimmer und las die Times . «Immer mit der Ruhe», sagte er, als ich mich für die Verspätung entschuldigte. «Dort, wo wir hinfahren, achtet niemand darauf, ob wir zu früh oder zu spät kommen.» Mrs. Willems brachte mir Kedgeree, und J. schneite herein. Sie hatte nicht vergessen, welcher Tag heute war, überreichte mir einen Strauß weißer Rosen mit einer schwarzen Schleife und lächelte, ganz so wie früher.
Dhondt fährt einen bordeauxroten Bugatti Royale Type 41, Baujahr 1927, ein wahres Prachtexemplar, Sixsmith. Saust dahin wie ein geölter Teufel – fast 80 auf der Schotterstraße! – und hat eine lärmende Hupe, die Dhondt beim kleinsten Anlaß betätigt.
Wunderschöner Tag für eine trostlose Reise. Je weiter man sich der Front nähert, desto zerstörter natürlich die Landschaft. Hinter Roeselare ist der Boden von einem Zickzack aus ½ eingefallenen Schützengräben durchfurcht, ein vernarbtes Gebiet aus Kratern und verbrannter Erde, wo nicht einmal mehr Unkraut Wurzeln schlägt. Vereinzelt stehen noch Bäume, doch wenn man sie berührt, sind sie nur totes, verkohltes Holz. Die schmalen Streifen Grün wirken, als sei die Natur nicht zu neuem Leben erwacht, sondern von Mehltau befallen. Dhondt schrie über den dröhnenden Motor hinweg, daß die Bauern sich aus Furcht vor Blindgängern bis heute nicht trauten, den Boden zu pflügen. Man kann diesen Ort nicht passieren, ohne an die vielen Menschen zu denken, die unter der Erde liegen. Rechnete jeden Augenblick damit, daß der Befehl zum Angriff ertönte, Infanteristen aus dem Boden wüchsen und sich den Schmutz von ihren Uniformen klopften. Die dreizehn Jahre seit Kriegsende erschienen mir wie dreizehn Stunden.
Zonnebeke ist ein verfallenes Dorf mit notdürftig instand gesetzten Ruinen und einem Friedhof für das 11. Essex-Regiment der 53. Brigade. Die Kriegsgräberkommission sagte, mein Bruder sei sehr wahrscheinlich auf diesem Friedhof zur letzten Ruhe gebettet worden. Adrian fiel am 31. Juli in der 3. Flandernschlacht. Dhondt hielt vor dem Tor und wünschte mir Glück. Er erklärte taktvoll, er habe ganz in der Nähe etwas zu erledigen – bis zum nächsten Juwelier müssen es mindestens achtzig Kilometer gewesen sein –, und überließ mich meiner Donquichotterie. Ein schwindsüchtiger ehemaliger Soldat bewachte das Tor, wenn er nicht sein mickriges Gemüsebeet bestellte. Friedhofswärter war er auch – selbsternannt, vermutlich – und klapperte mit einer Spendenbüchse für die Instandhaltung. Machte einen Franc locker, und der Kerl erkundigte sich in leidlichem Englisch, ob ich nach jemand Bestimmtem suche; er kenne den Friedhof wie seine Westentasche. Schrieb den Namen meines Bruders auf, doch er ließ auf jene unverwechselbare Weise die Kinnlade fallen, mit der die Gallier einem zu verstehen geben: «Du hast deine Probleme, ich meine, und dieses ist eindeutig deins.»
Hatte immer geglaubt, ich könnte erraten, welches anonyme Grab das von Adrian ist. Eine glühende Inschrift, eine nickende Elster oder eine bestimmte Musik würden mich zur richtigen Grabstelle führen. Natürlich vollkommener Humbug. Die unzähligen einheitlichen Grabsteine standen in Reih und Glied wie Soldaten beim Appell. Wuchernde Dornensträucher wanden sich über den
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