Der Wolkenatlas (German Edition)
Kriegsführung. Was war mit der Diplomatie?
«Ach, die Diplomatie», sagte M. D. ganz in seinem Element, «sie wischt nur auf, was der Krieg verschüttet hat, erkennt den Ausgang als rechtsgültig an, ermöglicht dem starken Land, einem schwächeren seinen Willen aufzuzwingen, damit es seine Flotten und Bataillone für gewichtigere Gegner schonen kann. Nur Berufsdiplomaten, unverbesserliche Schwachköpfe und Frauen glauben, die Diplomatie könne den Krieg auf Dauer ersetzen.»
Überspitzt formuliert, argumentierte ich, erfinde die Wissenschaft also so lange immer neues, noch blutrünstigeres Kriegswerkzeug, bis die zerstörerischen Kräfte der Menschheit die schöpferischen besiegt hätten und die Zivilisation sich selbst auslösche. M. D. griff meinen Einwand mit sarkastischer Häme auf. «Genau so ist es. Unser Wille zur Macht, die Wissenschaft und die Fähigkeiten, die uns vom Affen zu Wilden und schließlich zum modernen Menschen erhoben haben, sind exakt dieselben Fähigkeiten, die dem Homo sapiens noch vor Ende dieses Jahrhunderts das Lebenslicht auspusten werden! Sie, mein glücklicher Junge, werden es wahrscheinlich noch miterleben. Das wird ein sinfonisches Crescendo geben, hm?»
Der Schlachter kam herbei und bat den Wirt um eine Leiter. Muß jetzt schließen. Mir fallen gleich die Augen zu.
Dein
R. F.
◆ ◆ ◆
Zedelghem
21-X-1931
Sixsmith,
Ayrs müßte nach vierzehntägiger Bettlägerigkeit morgen wieder auf den Beinen sein. Die Syphilis wünsche ich meinen schlimmsten Feinden nicht. Na ja, einem oder zwei vielleicht. Der Syphilitiker zerfällt wie Fallobst am Beetrand. Dr. Egret kommt täglich vorbei, aber abgesehen von immer höheren Morphiumdosen gibt es nicht mehr viel, was er ihm verschreiben könnte. V. A. verabscheut Morphium, weil es seine Musik vernebelt.
J. neigt zu Anfällen von Mutlosigkeit. In manchen Nächten klammert sie sich an mich wie eine Ertrinkende an ihren Rettungsring. Empfinde Mitleid mit der Frau, aber mein Interesse gilt ihrem Körper, nicht ihren Sorgen. Galt.
Habe die letzten vierzehn Tage im Musikzimmer zugebracht und die Fragmente dieses Jahres zu einem «Sextett für einander überschneidende Solostimmen» umgearbeitet: Klavier, Klarinette, Cello, Flöte, Oboe, Violine, jedes Instrument mit einer ganz eigenen Sprache aus Tonart, Melodik und Klangfarbe. Im 1. Satz wird jedes Solo vom nachfolgenden unterbrochen; im 2. setzen sich die unterbrochenen Soli in umgekehrter Reihenfolge fort. Revolutionär oder effekthascherisch? Werde das erst erfahren, wenn es fertig ist, und dann ist es zu spät, aber das Stück ist mein erster Gedanke beim Aufwachen und mein letzter vorm Einschlafen, selbst wenn J. in meinem Bett liegt. Sie muß begreifen, daß ein Künstler in zwei Welten lebt.
Nächster Tag
Höllischen Krach mit V. A. gehabt. Heute morgen, bei der Komposition, diktierte er mir eine toccataartige Etüde, die mir gleich verflucht bekannt vorkam, bis ich schließlich den Refrain meines Engel von Mons heraushörte! Falls Ayrs gehofft hatte, ich würde nichts bemerken, hatte er sich mächtig geirrt. Sagte es ihm direkt ins Gesicht – das sei meine Musik. Er schlug eine völlig andere Tonart an: «Was soll das heißen, Ihre Musik? Frobisher, wenn Sie erst erwachsen sind, werden Sie feststellen, daß sich alle Komponisten von ihrem Umfeld inspirieren lassen. Sie sind eines von vielen Elementen in meinen, und dafür streichen Sie, wie ich betonen möchte, ein ordentliches Gehalt ein, erfreuen sich täglicher Meisterklassen in Kompositionslehre und pflegen Umgang mit einem der größten musikalischen Geister unserer Zeit.» Tja, gewaltiger Unterschied zu dem Mann, der mich noch vor wenigen Wochen, als ich ihn zum Pförtnerhaus schob, förmlich anflehte, bis zum nächsten Frühjahr zu bleiben. Ich fragte ihn, wer mich seiner Meinung nach ersetzen solle. Mrs. Willems? Der Gärtner? Eva? Nefertiti? «Ach, ich bin überzeugt, Sir Trevor Mackerass könnte einen geeigneten Jungen für mich auftreiben. Ja, ich werde inserieren. Sie sind nicht so einzigartig, wie Sie glauben. So. Wollen Sie Ihre Stellung nun behalten oder nicht?»
Wußte nicht, wie ich den verlorenen Boden wiedergutmachen sollte, also klagte ich über Schmerzen im rechten Zeh und verließ das Zimmer. V. A. schoß mir folgende Warnung hinterher: «Wenn es Ihrem Zeh bis morgen früh nicht bessergeht, Frobisher, lassen Sie ihn in London kurieren und kommen Sie nicht zurück.» Manchmal
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