Der Wolkenatlas (German Edition)
Rastafari flammte vor meinen Augen auf. Der Bahnhof war ganz in Schwarz gestrichen. Ich bog um eine Ecke und erblickte über dem Ausgang zwei leuchtende Zifferblätter, doch Uhren, die unterschiedlich gehen, sind schlimmer als gar keine. Niemand wollte an der Absperrung meine unverschämt teure Fahrkarte sehen, und ich fühlte mich betrogen. Vor dem Bahnhof fuhr ein Freier seine Runden, in einem Fenster blinkte etwas, aus einem Pub gegenüber der Auffahrt drang mal laute, mal leise Musik. «Kleine Spende?», fragte, nein, verlangte, nein, forderte dreist ein erbärmlicher Hund in einer Wolldecke. Nase, Augenbrauen und Lippen seines Herrchens waren so üppig mit Eisenwaren behängt, dass ein Elektromagnet ihm im Nu das Gesicht zerfetzt hätte. Was tun diese Menschen nur, wenn sie am Flughafen durch den Metalldetektor müssen? «’ne kleine Spende?» Ich sah mich, so wie er mich sah, ein gebrechlicher alter Sack ohne Freunde in einer abendlichen Stadt. Der Hund witterte Schwäche und erhob sich. Ein unsichtbarer Schutzengel nahm mich beim Arm und führte mich zu einem Taxistand.
Das Taxi schien seit einer kleinen Ewigkeit immer wieder um denselben Kreisel zu kreisen. Im Radio sang eine Heulboje, dass alles, was stirbt, eines Tages zurückkehrt. (Gott bewahre – denken Sie nur an Die Affenpfote !) Der Kopf des Fahrers war für seine Schultern viel, viel zu groß, er litt bestimmt an der Elefantenmensch-Krankheit, doch als er sich umdrehte, erkannte ich den Turban. Er beklagte sich über seine Kundschaft. «Alle sagen: ‹Ich wette, da wo Sie her sind, ist es nicht so kalt.› Und dann sage ich: ‹Falsch gewettet, Kollege. Sie waren wohl noch nie im Februar in Manchester.›»
«Sie kennen doch den Weg zum Haus Aurora, oder?», fragte ich, worauf der Sikh antwortete: «Na klar, wir sind schon da.» Die schmale Auffahrt endete vor einem stattlichen edwardianischen Herrenhaus von unüberschaubarer Größe. «Zachary sieht dich.»
«Ich kenne niemanden dieses Namens.»
Er sah mich verdutzt an und wiederholte: «Sechzehn siebzig.»
«Oh. Natürlich.» Meine Brieftasche steckte weder in der Hosentasche noch im Jackett. Auch nicht im Hemd. Die furchtbare Wahrheit schlug mir ins Gesicht. «Verflucht, ich bin bestohlen worden!»
«Ich verbitte mir solche Unterstellungen. Mein Taxi fährt nach städtischem Tarif.»
«Nein, Sie verstehen mich nicht, man hat mir meine Brieftasche geraubt.»
«Ah, jetzt verstehe ich.» Gut, er versteht mich. «Ich verstehe sogar sehr gut!» Der Zorn des ganzen Subkontinents schwärmte durch die Dunkelheit. «Sie denken, der Curryfresser wird schon wissen, auf wessen Seite die Bullen stehen.»
«Blödsinn!», protestierte ich. «Sehen Sie doch, ich habe Münzen, Kleingeld, jede Menge Kleingeld … hier … Gott sei Dank! Ja, ich glaube, es reicht …»
Er zählte seine Dukaten. «Trinkgeld?»
«Nehmen Sie …» Nachdem ich alles Silber zusammengeklaubt und in seine aufgehaltene Hand geschüttet hatte, stieg ich eilig aus dem Taxi und fiel prompt in einen Graben. Aus der Unfallopfer-Perspektive sah ich, wie das Taxi davonbrauste, was mir auf unliebsame Weise den Überfall in Greenwich ins Gedächtnis rief. Es waren nicht die gestohlene Armbanduhr, die Prellungen oder der Schock gewesen, die so tiefe Wunden in mir hinterlassen hatten. Es war, dass ich, ein Mann, der einst in Aden ein Quartett arabischer Strauchdiebe allein durch sein energisches Auftreten bezwungen hatte, in den Augen dieser Mädchen … alt war, einfach nur alt. Dass ich mich nicht so verhielt, wie es sich für einen alten Mann gehört – unauffällig, stumm und verängstigt –, war an sich schon Provokation genug.
Ich stieg die Rampe zu den imposanten Glastüren hinauf. Der Empfangsbereich glänzte wie Gralsgold. Ich klopfte, und eine Frau, die eine prima Besetzung für das Musical Florence Nightingale abgegeben hätte, strahlte mich an. Ich kam mir vor, als hätte jemand einen Zauberstab geschwungen und gesagt: «Cavendish, Ihr seid von all Euren Problemen erlöst!»
Florence ließ mich herein. «Willkommen in Haus Aurora, Mr. Cavendish!»
«Ach, danke sehr, vielen Dank. Mein Tag war zu entsetzlich, um es mit Worten auszudrücken.»
Ein Engel in Menschengestalt. «Hauptsache, Sie sind wohlbehalten bei uns angekommen.»
«Es gibt da leider eine kleine finanzielle Unpässlichkeit, die ich lieber gleich erwähne. Auf der Fahrt hierher …»
«Sie sorgen sich jetzt nur darum, dass Sie heute Nacht gut
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