Der Wolkenatlas (German Edition)
jüngsten Gäste waren in den Siebzigern. Die ältesten waren über dreihundert. Befanden wir uns etwa am Beginn des neuen Schuljahrs?
Dann fiel der Groschen. Sie, lieber Leser, haben es wahrscheinlich schon vor ein paar Seiten kapiert.
Haus Aurora war ein Altersheim.
Mein verfluchter Bruder! Das entsprach genau seiner Art von Humor!
Mrs. Judd saß mit ihrem Oil-of-Olaz-Lächeln an der Rezeption. «Hallo, Mr. Cavendish. Guter Dinge heute Morgen?»
«Ja. Nein. Es hat ein albernes Missverständnis gegeben.»
«Ist es denn die Möglichkeit?»
«Allerdings. Ich kam hier gestern Abend in dem Glauben an, Haus Aurora sei ein Hotel. Mein Bruder nahm die Buchung vor, wissen Sie. Aber … ach, das entspricht genau seiner Art von Scherzen. Zum Totlachen! Ein hundsgemeiner Trick, der nur funktioniert hat, weil ein Rastafari in Adlestrop mich an seiner unheimlichen Zigarre ziehen ließ und weil die verfluchten Stammzellenzwillinge am Fahrkartenschalter mich so schrecklich drangsaliert haben. Aber hören Sie. Sie haben hier ein viel größeres Problem – ein geisteskrankes Weibsbild namens Noakes treibt in diesem Haus ihr Unwesen und gibt sich als Zimmermädchen aus. Ihr Hirn ist vermutlich von Alzheimer zerfressen, aber, meine Herrn, hat die einen Schlag drauf. Sie hat mir meine Schlüssel gestohlen! In einer Go-go-Bar in Phuket wäre das nicht weiter überraschend, aber in einem Heim für ausgesonderte Wracks in Hull? Wenn ich von der Aufsichtsbehörde wäre, könnten Sie Ihren Laden dichtmachen.»
Mrs. Judds Lächeln war jetzt so giftig wie Batteriesäure.
«Ich will meine Schlüssel zurückhaben», sagte ich wie aus einem Zwang heraus. «Sofort.»
«Haus Aurora ist jetzt Ihr Zuhause, Mr. Cavendish. Ihre Unterschrift ermächtigt uns, auch gegen Ihren Willen zu handeln. Und ich würde es mir an Ihrer Stelle schleunigst abgewöhnen, in diesem Ton über meine Schwester zu sprechen.»
«Gegen meinen Willen handeln? Unterschrift? Schwester? »
«Die Betreuungsvollmacht, die Sie gestern Abend unterschrieben haben. Ihre Einweisung.»
«Nein, nein, nein. Das war das Gästebuch! Ach, was soll’s, alles unnützes Gerede. Ich breche nach dem Frühstück auf. Sagen wir lieber vor dem Frühstück, ich habe die Pampe gerochen! Meine Güte, das gibt eine tolle Partyanekdote. Aber vorher erwürge ich meinen Bruder. Die Rechnung geht übrigens an ihn. Ich muss allerdings darauf bestehen, dass Sie mir meine Schlüssel aushändigen. Und jetzt rufen Sie mir bitte ein Taxi.»
«Die meisten unserer Gäste bekommen an ihrem ersten Morgen kalte Füße.»
«Meine Füße sind recht warm, doch offenbar habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt. Wenn Sie nicht …»
«Mr. Cavendish, Sie frühstücken jetzt erst mal schön und …»
«Die Schlüssel!»
«Wir haben Ihre schriftliche Einwilligung, Ihre Wertsachen in unserem Safe zu verwahren.»
«Dann will ich mit der Hausleitung sprechen.»
«Das ist meine Schwester, Schwester Noakes.»
«Die Noakes? Leiterin?»
«Schwester Noakes.»
«Dann mit dem Direktorium oder dem Eigentümer.»
«Das bin ich.»
«Hören Sie.» Gulliver bei den Liliputanern. «Sie verstoßen gegen das verfluchte … Anti-Inhaftierungsgesetz oder wie das heißt.»
«Sie werden merken, dass Wutanfälle in Haus Aurora zwecklos sind.»
«Ihr Telefon, bitte. Ich möchte die Polizei verständigen.»
«Den Bewohnern ist es nicht gestattet …»
«Ich bin kein verfluchter Bewohner! Und da Sie sich weigern, mir meine Schlüssel auszuhändigen, werde ich nachher mit einem höchst grantigen Polizeibeamten zurückkommen.» Ich versetzte der Eingangstür einen heftigen Stoß, aber sie stieß mich umso heftiger zurück. Ein elendes Sicherheitsschloss. Ich versuchte es mit der Brandschutztür auf der anderen Seite der Veranda. Abgeschlossen. Unter Mrs. Judds Protest zerschlug ich mit einem kleinen Hammer den Entriegelungsmechanismus, die Tür ging auf, und ich war ein freier Mann. Teufel nochmal, die Kälte schlug mir mit eiserner Schaufel ins Gesicht! Auf einmal begriff ich, warum die Nordengländer so viel für Bärte, Färberwaid und das Einfetten ihrer Körper übrig haben. Ich marschierte zwischen wurmzerfressenen Rhododendronbüschen die gewundene Auffahrt hinunter, wobei ich mich arg beherrschen musste, nicht zu rennen. Immerhin war ich seit Mitte der Siebziger nicht mehr gerannt. Als ich an einem eigentümlich anmutenden Rasenmäher vorbeikam, wuchs vor mir ein zotteliger Riese in
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