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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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ersichtlichen Grund vorbei. Timothy Cavendishs Zeit auf Erden, in fünfzehn Worten. Ich verfocht noch einmal alte Thesen, dann verfocht ich welche, die ich nie vertreten hatte. Ich rauchte Zigarre, bis der Morgentau in wässerigen Schlieren an den hohen Fensterscheiben hinunterlief. Ich rasierte mich. Unten servierte eine verhärmte Nordirin entweder verbrannten oder gefrorenen Toast mit ungesalzener Butter und abgepackter, lippenstiftfarbener Marmelade. Mir fiel Jake Balokowskys Bonmot über die Normandie wieder ein: Cornwall kulinarisch.
    Als ich am Bahnhof ankam und mir die Fahrtunterbrechung vom Vortag erstatten lassen wollte, begann mein Leid von neuem. Der Fahrkartenfritze, dessen Pickeln ich beim Wachsen zusehen konnte, war auf ebenso standhafte Weise begriffsstutzig wie sein Pendant in King’s Cross. Das Unternehmen Eisenbahn züchtet sie aus derselben Stammzelle. Mein Blutdruck näherte sich seinem Rekordhoch. «Was soll das heißen, meine Fahrkarte von gestern ist ungültig? Es ist nicht meine Schuld, dass der verfluchte Zug liegen geblieben ist.»
    «Unsere auch nicht. Die Züge werden von SouthNet betrieben. Wir sind TicketLords.»
    «Wo kann ich mich dann beschweren?»
    «Hm, SouthNet Loco gehört einer Holding in Düsseldorf, die diesem finnischen Handyunternehmen gehört, also wenden Sie sich am besten an irgendjemanden in Helsinki. Bedanken Sie sich bei Ihrem Glücksstern, dass der Zug nicht entgleist ist. Das passiert in letzter Zeit ständig.»
    Zuweilen flitzt das flauschige Kaninchen Fassungslosigkeit so rasant um die Kurve, dass der Windhund Sprache perplex in der Startbox sitzen bleibt. Ich musste meine alten Knochen mächtig sputen, um den nächsten Zug noch zu erwischen – und feststellen, dass man ihn gestrichen hatte! Zu meinem «Glück» hatte der Zug davor jedoch so viel Verspätung, dass er noch nicht abgefahren war. Da alle Sitzplätze belegt waren, quetschte ich mich in ein winziges Eckchen. Als der Zug anfuhr, verlor ich das Gleichgewicht, doch eine menschliche Knautschzone bremste meinen Fall. So harrten wir aus, halb stehend, halb liegend. Die diagonalen Menschen.
    Die Randbezirke von Cambridge sind heute ein einziger Technologiepark. Damals fuhren Ursula und ich im Steckkahn unter jener malerischen Brücke durch, wo jetzt die futuristischen Quader der Biotechnikkonzerne stehen, in denen für zwielichtige Koreaner Menschen geklont werden. Ach, verflucht, das Altwerden ist unerträglich! Die Menschen, die wir einst waren, sehnen sich danach, wieder die Luft dieser Welt zu atmen, doch werden sie je wieder aus ihren verkalkten Kokons ausbrechen? Den Teufel werden sie!
     
    Die Zweige der Bäume bogen sich vor dem gewaltigen Himmel. Unser Zug hielt außerplanmäßig und ohne Erklärung in einer verdorrten Heidelandschaft, wie lange, ist mir entfallen. Meine Armbanduhr war stehen geblieben, mitten in der letzten Nacht. (Ich vermisse meine Ingersoll, sogar heute noch.) Die Gesichter meiner Mitreisenden nahmen Formen an, die mir entfernt bekannt vorkamen: Ich hätte schwören können, dass der Immobilienmakler hinter mir, der in sein Handy quasselte, mein Hockeykapitän aus der sechsten Klasse war, und die grimmige Frau zwei Plätze weiter, die Paris, ein Fest fürs Leben las, war das nicht der Dragoner vom Finanzamt, der mich vor einigen Jahren so furchtbar in die Mangel genommen hatte?
    Schließlich gab die Kupplung ein weinerliches Quäken von sich, und der Zug kroch im Schneckentempo zum nächsten Dorfbahnhof. «Adlestrop» stand auf dem abgeblätterten Schild. Eine stark verschnupfte Stimme sagte: «Aufgrund eines defekten Bremssystems wird unser Zug in diesem Bahnhof einen kurzen … Hatschi! … Halt einlegen. Centrallo Trains bittet um Ihr Verständnis und weist alle Fahrgäste an, auszusteigen … und auf einen Ersatzzug zu warten.» Meine Reisegenossen hielten empört die Luft an, stöhnten, fluchten, schüttelten die Köpfe. «Wir entschuldigen uns für – Hatschi! – eventuelle Unannehmlichkeiten und versichern Ihnen, dass wir alles tun werden, um unseren gewohnt reibungslosen – Haaatschi!! – Betrieb so schnell wie möglich wiederaufzunehmen. Haste mal ’n Taschentuch, John?»
    Tatsache: Die Schienenfahrzeuge in diesem Land werden in Hamburg oder sonst wo gebaut, und wenn die deutschen Ingenieure die für Großbritannien bestimmten Züge prüfen, importieren sie eigens Teile unseres maroden, privatisierten Schienennetzes, weil die vernünftig gewarteten europäischen

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