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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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keinem ein Sterbenswörtchen sagen, dass du mich gesehen hast.»
    Ich zwängte mich durch die Hecke, bevor er richtig begriffen hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof trug der Wind sein Schluchzen an mein Ohr: «Aber ich habe doch gar keinen Hund …»
     
    Ich saß hinter einem Private Eye verschanzt im Wellness-Café des Gesundheitszentrums, das mit uns Gestrandeten prächtig Kasse machte, und rechnete halb damit, dass eine wutentbrannte Ursula mit ihrem Enkelkind und einem Bobby hereinstürmte. Die Börsenmakler unter uns wurden von ihren persönlichen Rettungsbooten abgeholt. Der alte Vater Timothy gibt seinen jüngeren Lesern folgenden Rat, der im Preis dieser Lebenserinnerungen inbegriffen ist: Führt euer Leben so, dass ihr, wenn der Zug im Herbst eures Lebens auf der Strecke liegen bleibt, ein warmes, trockenes Auto habt und einen geliebten Menschen – es kann auch ein bezahlter sein, das ist egal –, der euch nach Hause fährt.
    Drei Scotches später fuhr ein ehrwürdiger Zug ein. Ehrwürdig? Ein verfluchter Edwardianer! Die ganze Fahrt bis nach Cambridge musste ich Studentengeplapper über mich ergehen lassen. Beziehungsnöte, sadistische Dozenten, teuflische Mitbewohner, Reality-TV, heiliger Strohsack, ich hatte ja keine Ahnung, dass Kinder in diesem Alter derart hyperaktiv sind. Als wir endlich in Cambrigde waren, suchte ich sofort nach einer Telefonzelle, um Haus Aurora mitzuteilen, dass vor morgen nicht mit mir zu rechnen sei, doch die ersten beiden waren mutwillig zerstört worden (in Cambridge, ich bitte Sie!), und in der dritten stellte ich fest, dass Denholme mir zwar die Adresse, aber keine Telefonnummer aufgeschrieben hatte. Neben einem Waschsalon fand ich ein Hotel für Handelsreisende. Der Name ist mir entfallen, aber schon beim Anblick der Rezeption wusste ich, dass es sich um einen kakerlakenverseuchten Klapperkasten handelte, und wie gewöhnlich lag ich mit meinem ersten Eindruck goldrichtig. Ich war aber zu kaputt, um mich nach etwas Ordentlichem umzusehen, und in meiner Brieftasche herrschte Ebbe. Mein Zimmer hatte sehr hohe Fenster, deren Jalousien ich nicht herunterlassen konnte, weil ich nicht drei Meter fünfzig groß bin. Bei den khakibraunen Köteln in der Badewanne handelte es sich tatsächlich um Mäusedreck, der Drehknauf der Dusche löste sich in meiner Hand, und das heiße Wasser war lauwarm. Ich räucherte das Zimmer mit Zigarrenqualm aus, legte mich aufs Bett und versuchte, während ich durch das fleckige Fernrohr der Zeit blickte, mich in chronologischer Reihenfolge an die Schlafzimmer meiner Geliebten zu erinnern. Prinz Liebstöckel und sein Anhang regten sich nicht. Dass die Gebrüder Hoggins womöglich gerade meine Wohnung plünderten, ließ mich eigenartig kalt. Verglichen mit ihren übrigen Raubzügen war die Beute sicher mager, sofern man Faustfutter Glauben schenken kann. Ein paar schöne Erstausgaben, aber ansonsten kaum etwas von Wert. Mein Fernseher hatte an dem Abend, als George Bush   II. die Herrschaft an sich riss, das Zeitliche gesegnet, und ich fand es zu riskant, mir einen neuen zuzulegen. Madame X hatte ihre Familienerbstücke und Antiquitäten wieder mitgenommen.
    Ich bestellte mir beim Zimmerservice einen dreifachen Scotch – nie im Leben würde ich mich in eine Bar setzen, wo Vertretercliquen mit Tittengeschichten und Prämien prahlen. Als mein Whisky endlich kam, war es nur ein knauserig bemessener Doppelter, und ich beschwerte mich. Das frettchenhafte Bürschchen zuckte bloß die Achseln. Keine Entschuldigung, bloß ein Achselzucken. Ich bat ihn, die Jalousie herunterzulassen, aber er warf nur einen raschen Blick hinauf und schnaubte: «Da komm ich nicht ran!» Statt Trinkgeld bekam er ein frostiges «Das wäre dann alles». Im Gehen ließ er einen mörderischen Darmwind entweichen. Ich las weiter in Halbwertszeiten , schlief jedoch kurz nach der Stelle ein, wo Rufus Sixsmith ermordet aufgefunden wird. Im Traum nahm ich mich eines kleinen Asylantenjungen an, der um fünfzig Pence für einen Ritt auf einem der Plastikpferde bettelte, die man häufig in den Ecken von Supermärkten findet. «Also schön», sagte ich, doch als der Junge wieder abstieg, hatte er sich in Nancy Reagan verwandelt. Wie sollte ich das seiner Mutter erklären?
    Ich wachte im Dunkeln auf, mein Mund ganz verklebt. Des großen Gibbon Urteil über die Geschichte – nicht viel mehr als ein Register der Verbrechen, der Torheiten und des Jammers der Menschheit – ratterte ohne

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