Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
und baumelte mit den Füßen wie ein kleiner Junge. Die Enden seines riesigen Schnurrbarts zuckten nach oben, als er Beth voller Zuneigung musterte. »Du bist für mich wie Enkelin, deswegen ich dir sagen Geheimnis«, sagte er. »Ich hab Angst vor Dunkel – nein, ehrlich, nicht lachen. Überall, wo dunkel und eng, seit kleiner Junge. Früher ich denken, Kobolde lauern an enge Orte und fressen mein kleine Fleisch.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Wer weiß, kann sein, die sind noch da.« Er gab sich einen kurzen Stoß, ließ sich fallen und verschwand unter den Straßen.
Beth saugte an ihren Zähnen. »Nur ’n verfluchter Russe kann glauben, diese Märchen wären irgend’ne Art von Beruhigung«, murmelte sie, dann packte sie ihren Speer und tauchte hinab in die Dunkelheit.
Kapitel 46
»Mach ma die Kippen klar, Timon.«
Timon seufzte. Eigentlich war Al an der Reihe, Zigaretten zu besorgen, aber der bronzene Gangster war so sehr damit beschäftigt, wegen der Wunde an seinem Arm ein erbärmliches Theater zu veranstalten – Bruder, ich glaub, die is infiziert. Bruder, ich glaub, die Sehne is durch. Bruder, ich glaub, da steckt noch ’n Reißzahn drin – , dass es keinen Sinn gehabt hätte zu streiten. In diesem elenden Mistding von einem Sträßchen gab es außer Rauchen schlicht nichts zu tun. Gossenglas hatte sie hierher geschickt, nach Bethnal Green, zur »Erholung«, was nichts anderes hieß, als dass es bedürftigere Kandidaten gab für ihre Matratzenlager auf der Deponie. Das war für sie beide nicht weiter wild, bloß die Untätigkeit zehrte an den Nerven. Sie wollten zurück in den Kampf.
Timon linste die schmale Gasse hinauf und hinunter, um sicher zu sein, dass niemand kam, dann stöhnte er auf und krümmte den Rücken. Kalksteinpulver rieselte zu Boden, als er sich nach den halb gerauchten Zigaretten bückte, die ein paar Kids hier vorhin ausgetreten hatten. Er riss zwei kleine Quadrate aus einer weggeworfenen Zeitung und klopfte den übrig gebliebenen Tabak aus den Stummeln auf das Papier, dann rollte er das Ganze fest zusammen. Nikotin-Nekromantie.
Al schabte mit seinem Bronzearm über Timons Stirn, sodass Funken flogen. Die wiederbelebten Zigaretten glommen auf und qualmten.
»Dank dir, Bruder.«
Während sie rauchten, betrachtete Al die Wolfsköpfe, die die Filia Viae auf die Haut seines Freundes gezeichnet hatte. »Wir sollten zusehn, dass du noch ’n paar mehr von den Dingern kriegst, Keule«, sagte er nach einer Weile.
Timon hatte sich von der Einmündung der Gasse weggedreht, als er sich nach den Kippen gebückt hatte, sodass er vollkommen überrascht war, dass plötzlich das Gesicht dieses verschwitzten Typen direkt vor seiner kalksteinernen Maske auftauchte.
»Ich weiß, dass du da drin bist!«, brüllte der Kerl. »Wo ist meine Tochter?«
Timon warf Al einen Blick zu; etwas Bronzenes flackerte auf, und der Dicke flog gegen die nächste Mauer. Luft strömte ächzend aus seinen Lungen, als er zu Boden sackte.
»Was hast ’n du für ’n Problem, Alter?«, polterte Al. »Willste dir bei zwei alten Statuen ’ne Tracht Prügel abholen?«
Der Mann krächzte ein paarmal, bevor seine Stimme zurückkehrte, doch als er endlich sprach, klang er keineswegs eingeschüchtert. »Diese Wölfe da auf deinem Arm – die hat ein Mädchen gezeichnet, stimmt’s? Ihr müsst mich zu ihr bringen.« Seine Wangen waren eingefallen, graue Tränensäcke hingen unter seinen wild funkelnden Augen. »Bitte. Sie ist meine Tochter.«
Es sah aus, als hätte irgendwer eine Handvoll Skulpturengärten geplündert und die erbeuteten Statuen auf einen Gewerbeparkplatz in Dalston gekippt. Die Luft schwirrte von Londoner Akzenten, während die Bordsteinpriester vor lauter Nervosität einfach drauflosplapperten.
Paul hatte Timons und Alligabars Mitleid geweckt. Um sicherzugehen, dass er mit ihnen Schritt halten konnte, legten sie mit dem Erst-hier-plötzlich-da ihrer Stop-Motion-Film-mäßigen Art der Fortbewegung immer nur wenige Meter auf einmal zurück; zur Unterhaltung warfen sie sich in markante Posen mit V-Zeichen, während sie darauf warteten, dass er zu ihnen aufschloss.
Ihr Weg durch das Gewirr der städtischen Straßen beschrieb als Reaktion auf Gerüchte einen Bogen nach Osten, so wie Elektronen sich um einen Magneten ausrichten. Die Filia Viae befinde sich nicht mehr in Gossenglas’ Deponielazarett, raunten die Wasserspeier. Scharen von Steinhäuten würden sich sammeln, die Abflussrohre würden
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