Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
aus der Hand fiel. Victors glasige Augen starrten sie an. Ihr Fuß hatte sich zwischen seinen Beinen verfangen.
Die Drahtmeisterin wütete über ihr, Pen gefangen im Herzen des Monsters. Beth tatstete nach dem Speer, doch der lag vielleicht zehn Zentimeter von ihrer Hand entfernt: viel, viel zu weit. Sie spürte, wie der letzte Rest Mut aus ihr heraussickerte. Pen hob einen Fuß, bereit, ihn ihr ins Gesicht zu rammen.
Beth schloss die Augen. »Das bist nicht du, Pen«, flüsterte sie sich zu.
Ein Herzschlag verging, dann ein zweiter, ein dritter. Beth öffnete die Augen. Sie schnappte sich den Speer und rappelte sich auf. Pen und die Drahtmeisterin standen einfach da, kaum einen Schritt entfernt. Pens linker Fuß hing immer noch in der Luft, er rührte sich nicht.
Sekundenlang blieb Beth reglos und starrte, bis sie erkannte, weshalb sie noch lebte.
Pen krallte sich in die Wand. Ihre Finger gruben sich in winzige Spalten im Mauerwerk, jedes Gelenk weiß vor Anstrengung. Den rechten Fuß hatte sie in eine Mulde im Boden gestemmt. Durch die Risse in dem zerfetzten Shirt sah Beth die bebenden Muskeln und das blaue Adergeflecht, das sich unter der Haut abzeichnete und einen starken Kontrast zu den Drähten bildete, die sich darüber spannten. Die Metalldornen bohrten sich in ihr Fleisch, zuckten mit abscheulicher Kraft hin und her, rissen immer neue schartige Wunden. Blut troff von Pens Gliedern wie Schweiß, doch sie rührte sich nicht . Ihre Augen waren geschlossen, ihre Lippen bewegten sich sacht auf dieselbe Weise, wie sie es taten, wenn sie betete. Sie würde sich nicht fügen. Sie weigerte sich, zu gehorchen.
Unvermittelt riss Pen die Augen auf. Sie heftete ihren Blick auf die Spitze des Eisenspeers, dann senkte sie ihn, ein einziges Mal, auf ihre eigene Brust.
Mit grausamer Klarheit begriff Beth. Pen wollte, dass sie sie tötete.
Beth riss den Speer hoch zum Stoß.
Pen schloss die Augen, ihre Brust hob und senkte sich schwer.
Beth spannte ihre Schulter und flüsterte stumm: Pen, es tut mir so l–
Urplötzlich kam ihr eine Idee, mit der Wucht eines Fausthiebs, und in ihrer Hast wäre die Waffe ihr beinahe aus der Hand gerutscht. Statt zuzustoßen, führte sie den Speer flach über Pens Bauch, schob ihn zwischen den Draht und die schweißglänzende Haut und riss ihn zurück.
Der Draht kreischte, Pen kreischte. Ein durchtrennter Strang hing jetzt schlaff herunter.
Wieder und wieder, immer schneller und schneller schwang Beth den Speer, unterdrückte die Tränen, die ihr den Blick trübten und das Zielen erschwerten, schnitt nur durch den Draht, nie in die Haut.
Die Drahtmeisterin schlug fauchend um sich, vermochte aber noch immer nicht ihren Wirt zu verlassen. Das Gesicht vor Schmerzen grausam verzerrt, krallte Pen sich weiter in die Wand, so heftig das Monster sie auch loszureißen versuchte. Der letzte Strang ragte aus Pens Bauchnabel.
Beth durchtrennte ihn, und Pen sackte in sich zusammen. Lange hockten sie kraftlos auf dem Boden der Kammer, lehnten sich aneinander, taten nichts als zu atmen. Fingerlange Stacheldrahtstückchen zuckten wie blinde Würmer um sie herum durch den Staub.
Irgendwann brach Beth das Schweigen. »Pen, Pen – es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht – ich wollte nicht, dass du mir folgst … « Dann hielt sie inne. Es war eine Lüge. Natürlich hatte sie gewollt, dass Pen ihr folgte: Such nach mir im geborstenen Licht , genau das hatte sie geschrieben.
Pen lachte, oder besser, sie gluckste, denn zu mehr reichte es im Moment wohl nicht. »Das tu ich nun mal, B«, flüsterte sie bitter. »Ich folge dir.«
Beth wollte sie an sich drücken, aber Pen wich zischend vor Schmerzen zurück, als ihre Arme sich um sie schlossen. Erst jetzt richtete Beth sich auf, um das ganze Ausmaß der Schnittverletzungen ihrer besten Freundin in Augenschein zu nehmen. Ihre eigenen Wunden verheilten bereits, versiegelt von dieser seltsamen Mischung aus Öl und Zement, die die Chemische Synode ihrem Blut zugesetzt hatte – aber Pen …
Pen hatte nicht so viel Glück. Ihr schlanker Körper und ihr schmales Gesicht waren übersät mit langen klaffenden Wunden, nicht allzu tief, doch allesamt schartig und rot. Der linke Nasenflügel, das linke Ohrläppchen und der linke Teil ihrer Unterlippe waren verschwunden; wo sie hätten sein sollen, hingen nur Reste von Haut und Fleisch in blutigen Fetzen.
»Du musst hier raus«, begann Beth zu murmeln. »Wir müssen dich sofort ins Krankenhaus bringen.
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