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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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Freundin redete. Sie kauerte sich neben Victors Leiche und schloss seine Augen. Sie spürte den Keim einer gefährlichen Trauer um den alten Russen, doch sie erstickte ihn, ehe er wachsen konnte.
    Später , versprach sie sich. Später . Zum Gruß hob sie Pen kurz den Speer entgegen, dann trat sie in den Durchgang.
    Das Licht war stärker hier, und die Presslufthämmer ließen den Boden erzittern: Die Maschinen gehörten Reach, dem Herrn der Drahtmeisterin. Diese Monster hatten ihre beste Freundin geraubt, Victor getötet und einen großen Teil ihrer Stadt zerstört. Sie fühlte den Zorn in ihrer Brust, so heiß und so schwarz und so zäh wie kochenden Teer. Sie war schon kurz davor loszurennen, als Pens Stimme zu ihr in den Tunnel drang.
    »B!« Sie klang zerbrechlich. »Ich hab Angst.«
    Beth blieb stehen und drehte sich um. »Pen?«, rief sie.
    Lange Sekunden verstrichen. Als Pen antwortete, klang sie wieder stabiler, gefasster. »Schon gut, ich bin okay. ’tschuldige, geh nur. Ich komm klar. Dauert wohl bloß noch ’ne Weile, bis ich mich wieder im Griff hab – geh schon!«
    Beth biss die Zähne zusammen, drehte sich wieder um und tat zum ersten Mal seit Beginn ihrer Freundschaft das, was ihr gesagt wurde.
    Pen lag rücklings auf dem Gestein und genoss es, vollkommen selbstbestimmt die Augen zu schließen. Sie atmete tief ein, trotz der Schmerzen, achtete nicht auf ihre gebrochenen Rippen, dehnte ihr Zwerchfell, ganz einfach weil sie es konnte .
    Sie bereute es, noch einmal nach Beth gerufen zu haben, doch selbst jetzt, da die Drahtmeisterin fort war, schwirrten und wirbelten ihre Wünsche und Ängste unstet hin und her. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder in der Lage sein würde, etwas lange genug zu wollen , um es in die Tat umzusetzen. Sie bewegte sich und zuckte zusammen. Jeder Quadratzentimeter des Stoffs auf ihrer Haut war getränkt mit Blut.
    Wenn ich tatsächlich verbluten würde, wär’s schon vor Tagen so weit gewesen , hatte sie gesagt. Ich weiß, wovon ich rede.
    Es war die erste richtige Lüge, die sie Beth je aufgetischt hatte. Nicht schlecht für eine Freundschaft, die schon drei Jahre dauerte, sagte sie sich. Panik überkam sie wie ein Schwarm winziger Spinnen, doch sie spürte auch eine Art Kick. Ein Gefühl purer Freiheit.
    Ihre Lider begannen zu flattern, als sich unter dem allzu vertrauten Gepolter von Reachs Maschinen ein neues Geräusch in ihre Ohren schlich: hastige Schritte.
    Pens Herz pochte mit einem Mal irgendwo in der Nähe der Halsschlagader. Sie schlug die Augen auf und reckte den Kopf, um besser sehen zu können.

Kapitel 49
    Wie ein rohes Rechteck aus Licht lag das offene Tor zu Reachs Königshof vor Beth. Eine grelle und unangenehme Helligkeit strömte von draußen zu ihr in den Tunnel, traf wie ein Rammbock auf ihre Netzhaut.
    Fluss voller Blut und Steinpisse , fluchte sie stumm. Sie war bereits nahezu taub von dem Lärm auf der anderen Seite des Ausgangs; selbst das dumpfe Pochen ihres panischen Herzschlags war in all dem Krach untergegangen. Wie’s aussah, musste sie jetzt wohl auch noch blind da rausgehen.
    Sie zögerte. Dort draußen wartete der König der Kräne, Londons Todfeind: die Bestie in der Haut der Stadt.
    Er tötet alles.
    Sie ging in die Hocke, wischte sich den öligen Schweiß von den Händen und packte den Speer. Stimmen huschten durch ihren Kopf.
    Den könntest du brauchen. Stoß ihn dem Krankönig in den Rachen.
    Komm schon, B –
    Mehr tun, als wegzulaufen.
    Reach wird dich in Stücke reißen.
    Mach schon, B –
    Ein Ende wird alles sein, was du findest …
    Mehr tun, als –
    Sie rappelte sich wieder auf und ließ das Getöse der Baustelle auf ihr Trommelfell prasseln.
    – wegzulaufen.
    Sie stürzte sich hinaus in den Tag.
    Zuerst sah sie nichts als schmerzhaft gleißendes Licht, während sie Hals über Kopf vorwärtsstürmte, den Speer umklammert, und es nicht wagte stehen zu bleiben. Von überall her flog seine Stimme auf sie zu, vibrierte als schwirrendes Echo durch die zerklüftete Landschaft aus Stahl und Beton: Ich bin Reach Ich bin Reach Ich werde sein Ich werde sein. Doch es gab auch noch andere Geräusche: das Stampfen eiserner Klauen durch Trümmer, das Geifern und Zuschnappen von Skelettwolfmäulern, entsetzlich nah.
    Allmählich gewöhnten ihre Augen sich an die Umgebung: Das grelle Licht war das der Sonne, zurückgeworfen von den Fassaden halb fertiger Wolkenkratzer. Reach hatte um sich eine Art Spiegelkabinett geschaffen. Beth

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