Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
musste kämpfen, um nicht die Fassung zu verlieren. Nach so langer Zeit als Teil der lebendigen Stadt kam ihr das Gefangensein hier unten vor wie Ersticken.
An manchen Stellen fühlten die Wände des Tunnels sich glatt an, wie Glas oder – der Gedanke überfiel sie jäh – wie verbrannte Haut.
Ohne den Großen Brand , hatte Gossenglas gesagt, müssen wir eben improvisieren.
Das hier waren Reachs Wunden, davongetragen bei jener verheerenden ersten Verbrennung, sein gewaltiger Leib, versehrt und unter späteren Inkarnationen begraben. Diese Narben waren dauerhafter als Felsgestein. Sie zitterte vor der Intimität der Berührung.
In der Dunkelheit schien alles näher, lauter, durchdringender. Über ihnen dröhnten und polterten die Motoren der Baumaschinen, und Beth zuckte zusammen, als etwas Mörtel vo n der Decke rieselte. Fluchend mahnte sie sich, ruhig zu bleiben.
Dem Strom von erfinderischen Obszönitäten nach zu urteilen, der hinter ihr unablässig den Tunnel entlangflutete, hielt sie sich allerdings weit besser als Victor. »Bei erste fehlende Monatblutung von Jungfrau Maria«, grunzte er. »Ist seit sieben Jahren, dass ich nicht mal geschlafen hab unter Dach. Was in Hölle mach ich hier?« Er verstummte für einen Moment, dann fügte er hinzu: »Zarin beurteilen mich nicht zu hart, njet ? Ich normal nicht solche Memme.«
Beth fasste hinter sich und fühlte eine grobe, schwielige Hand nach ihrer greifen. »Ich weiß, Victor. Ich weiß. Wenn’s dir irgendwie hilft, ich hab ’ne Freundin, die hasst enge Räume genauso wie du.« Beth schluckte hart und starrte nach vorn in die Dunkelheit. »Und sie ist mutig wie nur was.«
Die Minuten verstrichen. Das Einzige, woran Beth die Zeit hätte abschätzen können, war ihr Herzschlag, doch der ging viel zu schnell, als dass er eine große Hilfe gewesen wäre. Sie hatte den dringenden Wunsch zu reden, einfach draufloszuplappern. »Was, wenn wir uns verirrt haben?«
»Was, wenn wir im Dunkeln ’ne Abzweigung verpassen?«
»Was, wenn wir hier unten gefangen sind?«
Sie biss sich auf die Lippe, so heftig, dass sie Benzin und Blut schmeckte, fest entschlossen, kein Wort zu sprechen. Ihren eigenen Ängsten eine Stimme zu geben würde Victors bestimmt bloß noch schlimmer machen –
– aber dann streckte sie den Arm aus, und dieses Mal konnte sie sich nicht davon abhalten, laut aufzuschreien.
»Zarin?«, fragte Victor verunsichert.
»Alles okay«, flüsterte sie. Sie hatte mitten im Schutt etwas gespürt, etwas Warmes und Pochendes, wie einen Puls. Es lebte. Während sie sich weiter voranschlängelte, fühlte sie jetzt die sachte Berührung des lebendigen Betons an ihren Armen, ihrem Hals, ihrem Bauch, fühlte, wie er ihre Haut mit der Kraft der Stadt wieder auflud. Ihr Lachen hallte erschreckend laut in der Dunkelheit. Der Pulsschlag, der durch den Grund des Tunnels heraufdrang, war schwach, doch für sie war er wie frische Luft für einen Ertrinkenden. Sie legte ein Ohr an den Boden. Plötzlich hörte sie ein Geräusch und erstarrte.
War das ein Weinen ?
Es war kaum zu hören, die Schwingungen drangen von weiter unten herauf durch das Gestein. Angestrengt lauschte sie.
Da war es wieder: ein leises Weinen, wie vor Schmerz – jener Art Schmerz, den man schon lange erduldet, ohne sich je daran gewöhnen zu können. Da war noch ein zweites Geräusch, das Knirschen von Felsgestein unter entsetzlicher Anspannung. Die Laute erklangen rhythmisch, beinahe gleichzeitig. Jedes felsige Ächzen wurde von einem Keuchen und Wimmern der Stimme begleitet, so als atmete da jemand unter Qualen gegen den Stein.
Frauen der Wände. Gemäuermänner.
Unvermittelt schoss ihr der Anblick der verstümmelten menschlichen Leiber auf den Abrissfeldern in Woolwich durch den Kopf, und ihr Magen verkrampfte sich. Mit einem Mal wusste sie, woher das Lebendige kam, das sie spürte.
Sie kratzte mit ihren Fingern über den unsichtbaren Boden, tastete nach einem Spalt, schob ihre Nägel in sämtliche Ritzen, bis sie fand, was sie suchte. Sie zog und zerrte und wuchtete schließlich eine Betonplatte beiseite, die dröhnend gegen die Tunnelwand schlug.
»Zarin! Stopp!«, schrie Victor.
Beth achtete nicht auf ihn. Da unten war jemand am Leben . Sie wühlte sich in das Loch, das sie aufgerissen hatte, bis ein Geruch nach schaler Pisse und altem Schweiß und scharfem Schnaps sie einhüllte und dicke, muskulöse Arme nach ihren griffen.
»Zarin, stopp «, flüsterte Victor ihr ins Ohr.
Sie
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