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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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wehrte sich, aber er ließ sie nicht los. »Da unten ist jemand am Leben!« Sie spannte sämtliche Muskeln an, bereit, sich aus seinem Griff zu befreien, auch wenn das bedeutete, ihm die Arme zu brechen.
    » Njet , nicht ein Jemand «, zischte Victor, »ganz viele Jemands .«
    Beth sackte in sich zusammen, rang keuchend nach Atem. Sie fühlte einen sanften Druck an ihrer Schläfe und ließ zu, dass Victor sie sacht gegen die Wand presste.
    »Horch«, sagte er. »Ich sie schon gehört seit viel weiter hinten.«
    Wieder konnte Beth zunächst nichts anderes hören als das Pochen ihres eigenen Pulsschlags, doch dann sickerten allmählich Stimmen durch das Gestein: Stimmen von Frauen, von Männern; manche vom Alter verklebt, andere schrill, ungebrochen. Sie hallten vor und zurück, antworteten einander dann und wann mit wenigen entstellten Worten, vollkommen tonlos. Doch die meisten von ihnen weinten nur: leise, aber untröstlich.
    »Wo du auch graben«, sagte Victor, »du wirst bloß begraben andere tiefer.«
    Sie brauchte einen Moment, doch dann verstand Beth, was er ihr sagen wollte. Bisher hatte sie immer nur die Toten gesehen; was sie jetzt hörte, waren die Verwundeten, zermalmt unter dem Gewicht des Hofs, den der Krankönig sich errichtet hatte.
    »Komm, Zarin. Lass uns suchen nach deine Freundin. Was anderes wir nicht können tun.«
    Doch gerade als Beth ihr Ohr von der Wand lösen wollte, schienen die Stimmen von etwas befallen zu werden. Das Weinen erstarb, ein Flüstern trat an seine Stelle: ein Wort. Es verbreitete sich durch das Stimmengewirr mit der Giftigkeit eines Gerüchts: Meisterin
    Meisterin Meisterin Meisterin Meisterin Meisterin –
    MeisterinMeisterinMeisterinMeisterinMeisterinMeisterin MeisterinMeisterin
    Und dann, alle zugleich, verstummten die Stimmen.

Kapitel 48
    »Victor«, zischte Beth, als ein neues Geräusch den Tunnel erfüllte: ein fauchendes Kratzen wie von Stahldrähten, die über Stein glitten. »Sie kommt.«
    Beth stellte sich vor, wie die Widerhaken sich in das Mauerwerk gruben, wie die Drahtmeisterin ihr menschliches Bündel mit sich zerrte. Das Geräusch hallte von den steinernen Wänden wider; Beth konnte nicht sagen, aus welcher Richtung es kam.
    Im Dunkeln griff sie nach ihrem Speer und rief sich Pens entstelltes Gesicht in Erinnerung.
    Blitzartig wie eine Schlange peitschte etwas durch die Luft, wischte an ihrer Wange vorbei.
    Victor schrie auf, ein ersticktes Keuchen. Beth wirbelte herum, die eiserne Spitze des Speers verfing sich in der Decke des Tunnels. Das Metall schabte über den Stein, ein grellblauer Funke schlug.
    Sie sah Victor, kurz nur im Licht dieses Augenblicks, kaum einen Meter hinter sich. Ein dünner Strang Draht umschlang eng seinen Hals, Widerhaken bohrten sich in sein Fleisch. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, und seine Zunge blutete aus einer Wunde, die er sich mit den Zähnen geschlagen hatte.
    Die Finsternis kehrte zurück, und Beth wurde gegen die Wand geschleudert, als das Monster Victors massigen Leib an ihr vorbei in die Tiefen des Tunnels zerrte. »Victor!«, schrie sie. Sie stemmte sich auf die Knie, noch immer benommen, hielt den Speer mit der rechten Hand fest umklammert. Das Fauchen der Drahtmeisterin hallte durch die enge Röhre, und Beth hetzte ihm nach, kroch auf Händen und Knöcheln und Knien, bis der Tunnel sich weitete und hoch genug wurde, dass sie laufen konnte. Ihre schmerzenden Muskeln verkrampften, doch sie zwang sich in einen schlurfenden Trab.
    Es wurde heller, sie konnte jetzt die nächste Biegung erkennen. Das Poltern und Knirschen von Reachs Maschinen wurde lauter. Beth verstärkte ihren Griff um den Speer, jagte in vollem Lauf um die Kurve – und blieb abrupt stehen.
    Vor sich, am anderen Ende des Tunnels, sah sie eine Kammer. Die vier Wände waren nach innen gestürzt und trugen nun jeweils das Gewicht der anderen, sodass sie eine Art Pyramide bildeten. In der Mitte der Kammer, umgeben von einem Gespinst dünner Lichtstrahlen, stand Pen. Winzige Staubteilchen umflirrten sie, ihre Drahthaut glänzte.
    »Mach schon«, zischte Beth sich zu und setzte ihre Muskeln in Bewegung. »Na los.« Sie trieb sich vorwärts.
    Pen starrte sie zwischen den Drähten hindurch an, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Ihre Lippen waren mit Dornen vernäht.
    Als sie nur noch wenige Zentimeter von der Mündung des Tunnels entfernt war, erkannte Beth, warum Pen so verängstigt aussah. Ein Drahtfaden, so dünn, dass er beinahe unsichtbar war, war

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