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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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hinaufgezogen, während die Wölfe unter ihr bellten. Ihr versagte die Stimme, noch ehe der Kran sie ganz nach oben gehievt hatte.
    Gut fünfzig Meter über der Baustelle kam die Winde des Krans surrend zum Stillstand. Wie ein Fisch baumelte Beth an dem Haken.
    Die Skelettwölfe streunten über das Gelände, scharrten und schnüffelten in den Kratern; zwischen ihnen rumpelten Bagger auf Raupenketten geschäftig hin und her. Eine der Maschinen senkte die stählernen Kiefer seiner Schaufel auf einen Grat aus Gestein, der stark an einen Nasenrücken erinnerte.
    Und plötzlich sah Beth Reach.
    Von hier oben offenbarte sich in den Konturen der Erdarbeiten ein vollkommen neues Bild. Diese Mulde dort war die Einbuchtung einer Wange; jener Riss dort im Beton der Spalt zwischen leicht geöffneten Lippen. Eine löchrige Steinkugel war ein Auge.
    Die Züge waren noch grob, noch nicht einmal halb fertig, doch die Umrisse waren deutlich erkennbar. Der König der Kräne hatte ein Gesicht. Beth war vorhin quer über seine Stirn gelaufen.
    »Ich bin Reach« , drang seine Stimme kreischend aus den Getrieben seiner Maschinen. »Ich werde sein.«
    Benommen vor Ehrfurcht sah Beth mit offenem Mund zu, wie zwei Bagger sich auf einen der gewaltigen steinernen Augäpfel zuschoben. Gemeinsam senkten sie ihre Pressluftmeißel und stießen ein pupillengroßes Loch hinein. Dann veränderten sie leicht ihre Position und wiederholten das Ganze. Mächtige Brocken Felsgestein stoben in einer Wolke aus Staub und Lärm in alle Richtungen. Der Effekt war nicht stark, aber deutlich: Das Auge starrte jetzt geradewegs zu ihr hinauf.
    Beth hing schlaff an ihrer durchbohrten Schulter. Der Schock dämpfte ihr Schmerzempfinden wie eine flauschige Decke.
    »Was bist du?«, flüsterte sie.
    »Ich bin Reach« , sagte Reach, doch Beth glaubte nicht, dass es eine Antwort auf ihre Frage war.
    »Warum – ?«
    »Ich werde sein.« Auf dem behauenen Antlitz des Krangotts lag keine Bosheit, in seiner Stimme kein Hass gegen sie. Da hatte er direkt vor sich ein Mädchen, das wie seine erbittertste Feindin aussah und die Waffe ihres Sohnes trug, und doch war der Ausdruck auf Reachs Gesicht ganz unverkennbar schlicht …
    Neugier.
    Kindliche Neugier: als hätte ein Kind einen spannenden Käfer unter dem Klettergerüst entdeckt. Selbst die Art, in der seine Gesichtszüge nur unvollständig ausgeprägt waren, erinnerte an Babyspeck.
    »Ich werde sein, ich werde sein.«
    Himmel und Thems. Der Gedanke traf Beth wie durch einen Schleier aus Schmerz. Er ist ein Kind . Sie wollte es nicht glauben, doch die Gewissheit setzte sich augenblicklich in ihrem Inneren fest, unauslöschlich. Mehr noch, er ist ein Kleinkind, noch nicht einmal ganz geboren. Denn noch immer entbanden die Baggerschaufeln und Pressluftmeißel ihn aus dem Gestein.
    Fil hatte ihr einmal vorgehalten: Das ist Krieg , und Kinder gibt’s überall. Er hatte bestimmt nicht geahnt, wie recht er hatte.
    »Ich werde sein.«
    Was, wenn das schon alles war, was Reach wollte – alles, was er zu wollen vermochte mit seinem Säuglingsverstand? Er war kein Gott; seine Wölfe und ihre Abrichter waren nicht seine Verehrer, sie befolgten nicht seine Befehle. Er war gar nicht in der Lage, Befehle zu geben. Alles, was er sagen konnte, war Ich bin Reach und Ich werde sein .
    Die Wölfe mussten so eine Art Teil von ihm sein, wurde Beth klar, so etwas wie Antikörper, die alles vernichteten, was ihn bedrohte.
    Eine Windböe packte Beth und ließ sie an dem Seil hin und her schwingen wie irgendein albernes Pendelgewicht. Während die Welt sich langsam unter ihr drehte, bemerkte sie hier und da etwas, das aus den Trümmern herausragte: das abgeschlagene Bein einer Statue; eine verkrümmte Eisenstange, die einmal eine Straßenlaterne gewesen sein mochte, daneben zerbrochenes Glas, verstreut auf dem Boden. Sie glaubte, Bruchstücke eines gespiegelten Gesichts zu erkennen, einst hochmütig, jetzt schreiend. Sie sah den Preis für Reachs Leben.
    Er ahnt nichts davon , hatte Pen gesagt, aber er tötet alles .
    Reach war bloß ein Baby, das versuchte, geboren zu werden; er wusste nicht oder war gar nicht fähig, sich darum zu scheren, wie viel Leid und Tod diese Geburt verursachte.
    Ein metallisches Kreischen riss Beth aus ihren Gedanken. Die Skelettwölfe heulten und wirbelten herum, dann stürmten sie hektisch davon. Verzweifelt warf sie ihr Gewicht von einer Seite zur andern, weil sie sehen wollte, wem oder was sie

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