Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
ihr verrottender Müll verströmt. »Ich verstehe«, flüstert sie. »Es war richtig zu warten. Es war sicherer. Doch wenn Reach gegen uns in die Schlacht zieht, ist es mit diesem Luxus vorbei.«
Mir schwirrt der Kopf.
Glas’ Stimme wird tief, eindringlich. »Du musst handeln, Filius. Du hast recht, ich hätte es dir früher sagen sollen. Rea ch ist st ark geworden – zu stark – in Abwesenheit deiner Mutter. Wir brauchen eine Armee«, drängt sie. »Die Bordsteinpriester, die Reflexokratie: die alte Garde. Wir müssen uns rühren , sonst wird Mater Viae den Wolkenkratzerthron bei ihrer Rückkehr besetzt vorfinden, allerdings nicht von dir.«
Doch ich höre kaum, was sie sagt. Ich kann nichts anderes denken als: Sie kommt zurück sie kommt zurück sie kommt zurück –
»Du hättest es mir sagen sollen!«, fahre ich Gossenglas an. Sie versucht mich an sich zu drücken, aber ich reiße mich los und laufe. Ich warte darauf, dass sie mir hinterherruft, doch als ich mich nach ihr umdrehe, steht sie bloß da und beobachtet mich mit diesem trostlosen Blick – Gossenglas: der Geist all dessen, was die Stadt ausstößt, das Kindermädchen, das für mich gesorgt hat, anstelle von –
Sie kommt zurück.
Ich sehe den Körper aus Müll wie Asche zerfallen.
Kapitel 8
Beth stand am Ende der Wendover Road und sah zu, wie Pens vertraute Gestalt sich hinter einem Fenster auf der anderen Straßenseite bewegte.
Leute eilten vorüber, drängten sich murrend an Beth vorbei. Die Frauen trugen die unterschiedlichsten Klamotten: Jeans und bauchfreie Tops, Hidschabs, hier und da eine Burka. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, an den Marktständen wurden die billigen DVD s und Plastikuhren weggepackt. Hinter riesigen Restaurantfenstern beugten Männer sich über Schalen voll mit Biryani und plauderten angeregt, andere schauten Eishockey auf den lautlos gestellten Fernsehern. Ein würziger Geruch von Curry und überreifen Früchten hing in der Luft.
Alles hier schrie Pen , laut genug, dass Beth nach Atem rang. Sie verlagerte ihr Gewicht und überlegte es sich zum vierten Mal anders.
Sie brauchte nur zu rufen – eine Silbe würde wahrscheinlich reichen. Pens Fenster stand einen Spaltbreit offen, sie würde es hören. Bloß diese eine Silbe und sie würde herunterkommen. Sie würden sich direkt nebenan in das Gässchen setzen, die Rücken gegen die Brandmauer gelehnt, und Pen würde Beth diesen Irrsinn ausreden, den sie vorhatte.
Beth stellte sich auf die Fußballen; sie fühlte, wie dieser Schrei in ihr aufstieg –
– und ihr dennoch erneut im Hals stecken blieb, weil sie so einen Geschmack im Mund hatte, den gleichen wie schon in Gorecastles Büro, sodass sie fast ausgespuckt hätte; sodass sie Parva Khan um keinen Preis in ihrer Nähe haben wollte.
Vor nicht einmal einem Tag hätte sie noch gedacht, Pen würde ihr glauben. Sie hätte darauf vertraut, dass Pen ihr vertraute. Jetzt war dieses Vertrauen zerstört, und die Erkenntnis dessen fühlte sich an, wie auf Alufolie herumzukauen.
Außerdem wusste sie ja nicht einmal, ob Pen überhaupt mit ihr reden würde.
B, du hast alles noch schlimmer gemacht.
Beim Gedanken an Pens erloschene Stimme hätte Beth beinahe kehrtgemacht und wäre davongelaufen.
Doch sie konnte nicht gehen, ohne sich auf irgendeine Art zu verabschieden, egal wie sehr ein verwundeter kleiner Teil von ihr es auch wollte. Sie ließ ihre Hand in die Tasche gleiten und rieb mit dem Daumen über das schwarze Kreidestück, das darin steckte.
Rund um den Rahmen von Pens Haustür lief eine Reihe von Piktogrammen: winzige Züge, unter deren Rädern elektrische Blitze zuckten. Beth hatte sie als kleine Prozession um die Hausecke und hinein in das Gässchen laufen lassen, wie eine Spur aus Brotkrumen.
Und dorthin, auf die Backsteine neben den metallenen Mülltonnen, zeichnete sie Pens lächelndes Gesicht, liebevoll in allen Details: ein Abschiedsgeschenk.
Straßenlaternen flackerten auf, während das Tageslicht schwand. Nur mit Mühe konnte Beth sich weiter auf das konzentrieren, was der Junge gesagt hatte: Such nach mir im geborstenen Licht. Den ganzen Tag lang hatte sie an diesem kryptischen Satz herumgerätselt.
Bei dem Tanz, wo das Licht selbst die Musik ist, wo der Ansturm des Gleisgeistes die Trommel schlägt.
Beth grübelte über seine Worte nach, forschte nach ihrem Sinn. Sie klangen beunruhigend, wie das Geschwätz eines Irren, der er, gestand sie sich selbst ein, womöglich sogar war.
Sie
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