Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
Arbeit machen, wie sie leere Pappröhren, Chipspackungen und Sperrholzstücke in die Mitte des Hofs schleppen. Plastiktüten werden knirschend in Streifen gerissen von wilden, wuselnden Käfern. Als Erstes bilden sich Zehen, dann Beine und Hüften, bis sich vor mir eine schwankende, kunterbunt wirre Skulptur aus Müll erhebt.
Die Eierschalenaugen blinzeln unstet. Sie, und nur sie, sind immer dieselben. Diesmal ist Glas eine Frau, ihre Hüften bestehen aus einem rostigen Fahrradlenker, ihr Haar aus langen Strähnen zerrissenen Plastiks. Am Ende einer Hand windet sich unzufrieden der Kopf eines Wurms. Ich finde einen Eisstiel im Dreck neben meinen Füßen und reiche ihn ihr. Der Wurm ringelt sich herum und bricht ihn in Stücke, die als Knöchelgelenke dienen.
»Danke«, sagt sie. Ihr Eierschalenblick registriert die Brandwunden und schwarzen Blutergüsse auf meiner Brust. Gestern noch hätte sie mitleidig gesäuselt oder gegurrt, doch seitdem hat sich eine Menge verändert.
»Nichts, was deine Selbstheilungskräfte überfordert«, stellt sie befriedigt fest. »Der Gleisgeist ist tot, nehme ich an?«
»Hinter Waterloo geerdet«, bestätige ich. »Bin glimpflich davongekommen. Schätze, die zusätzliche Energie war zu viel für ihn; hat ihn nach ein paar Stunden zerstört. Er war verwirrt, blutete bereits aus. Am Ende war’s eine Erlösung.«
»Wenigstens etwas.« Ein kleines Etwas. Sie seufzt, als müsste sie jetzt schon für Kleinigkeiten dankbar sein. Nach kurzem Zögern sagt sie: »Meine Tauben haben Wolfsgestalten um die Baustellen schleichen sehen. Und die Voltspinnen berichten von einem mitternächtlichen Spannungsanstieg im Leitungsnetz, vorletzte Nacht. Genau zu der Zeit, als dieser Geist in Reachs Territorium vorgestoßen ist.«
Anteilnahme drängt sich in ihre Stimme. »Tut mir leid, Filius, wirklich, aber Reach ist dabei, seine Kräfte zu sammeln. Es gibt keinen Zweifel mehr: Er ist es.«
Ich komme mir vor, als versuchte ich, einen Backstein zu schlucken. Erst jetzt wird mir klar, wie sehr ich gehofft habe, dass Glas sich geirrt hat. »Ich kapier’s nicht«, murmele ich. »Wieso jetzt ?«
Glas wendet den Kopf ab. Der laue Wind weht ihr das strähnige Müllbeutelhaar ins Gesicht. »Filius«, sagt sie behutsam, »da ist noch etwas, das du wissen musst. Es sind Gerüchte in Umlauf – falls Reach sich für einen Krieg rüstet, dann nur deshalb, weil er ihnen Beachtung schenkt.« Sie befeuchtet ihre Lippen mit einer Zunge aus einem alten Spülschwamm.
Unbehagen beschleicht mich. »Was für Gerüchte?«, frage ich.
»Dass die Straßenschilder sich bald schon neu anordnen werden«, fährt sie sehr leise fort, »und streunende Katzen mit aufgestellten Schwänzen in Reih und Glied durch die Straßen marschieren.«
Für einen langen Augenblick stehe ich einfach nur da, fühle mich – und sehe zweifellos auch so aus – wie ein tragischer Dummkopf.
»Sie … sie … kommt zurück ?« Ich bin nicht mal sicher, ob ich das laut gesagt habe.
Glas sieht mich an. »Tut mir leid«, sagt sie, und ich explodiere. Alle Anspannung in meiner Brust vervielfacht sich noch, als sie aus mir herausbricht. Ich fühle mich schwindlig, verängstigt, beflügelt, alles zugleich.
»Wieso hast du mir nichts gesagt?« , schreie ich Glas an.
Kläglich zuckt sie die Schultern. »Es gab nichts Konkretes. Ich wollte nicht, dass du dir vorschnelle Hoffnungen machst, und ich wollte nicht … « Sie zögert. »Ich wollte nicht, dass du Angst hast.«
»Angst wovor ?«, will ich wissen. »Sie ist meine Mutter !«
»Sie ist auch eine Göttin«, erwidert Glas, »und Göttinnen sind nicht freundlich.«
»Was soll das denn heißen?«
»Krieg steht bevor, Filius. Der König der Kräne und die Herrin der Straßen werden sich die Stadt nicht teilen. Die Giebel und Schächte und Rinnsteine werden bluten. Reach richtet Mater Viaes Reich schon seit Jahren zugrunde, reißt es in Stücke und unterwirft es dem, was auch immer er dort um St Paul’s herum baut, und du hast ihn nicht davon abgehalten. Du bist ihr Sohn und du hast ihn nicht davon abgehalten. Diese Kathedrale war ihr Kronjuwel, und du hast sie aufgegeben, ohne zu kämpfen.« Ihr Ton ist grauenhaft sanft. Sie versucht, es nicht klingen zu lassen, als wäre all das meine Schuld.
»Ich hätte ihn nicht davon abhalten können «, protestiere ich, jetzt verwirrt und erschrocken. »Ich war nie stark genug – «
»Schhh«, macht sie, legt ihre Arme um mich. Ich spüre die Wärme, die
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