Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
– mir ist jeder Quadratzentimeter Londons als Nachtlager recht. Willkommen in meiner guten Stube.« Er breitete seine Arme aus, als wollte er die ganze Stadt umgreifen. »Mach’s dir bequem.« Er lachte, dann schien ihm wieder einzufallen, mit wem er sprach.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie misstrauisch an. »Wer bist du? Wieso verfolgst du mich?«
Auch Beth verschränkte die Arme. Ihre Haltung war kampflustig, doch sie fühlte, wie sie zitterte vor lauter Adrenalin, das ihr durch die Adern schoss. »Und wer bist du?«, entgegnete sie. »Wieso hast du mich gerettet?«
»Mein Name ist Filius Viae«, sagte er. »Er bedeutet Sohn der Straßen. Meine Mutter ist ihre Göttin.« Er machte einen Schritt auf Beth zu, sein Schatten legte sich auf ihr Gesicht. »Sie hat die Fundamente der Straßen gelegt, auf denen du gehst, und die Überreste der Wege, die unter ihnen begraben liegen. Sie hat die Maschinen der Dampfgeister befeuert und den Lampen ihre Startfunken eingehaucht. Sie hat die Ketten geschmiedet, die den alten Vater Thems in seinem Bett halten.« Sein Grinsen wirkte jetzt spöttisch.
»Und ich hab dich gerettet, weil jemand, der bescheuert genug ist, in einem Gleisgeist zu fahren und sich einem andern schreiend in den Weg zu stellen, alle Hilfe braucht, die er kriegen kann.«
»Ookay«, murmelte Beth. Sie atmete tief durch. »Mein Name ist Beth Bradley«, fuhr sie fort. »Er bedeutet – tja, er bedeutet Beth Bradley. Mein Dad ist Journalist – arbeitslos. Ich bin von der Schule geflogen, und ihm war’s egal. Meine beste Freundin ist diejenige, die mich verpfiffen hat. Ich nehme an, der Grund dafür, dass ich dich verfolge, ist – deine Antwort gefällt mir besser.« Sie versuchte ein Lächeln und fügte hinzu: »Bis auf den Namen natürlich. Konnt ja nicht wissen, dass du ›Phyllis‹ heißt. Ich dreh dir bestimmt keinen Strick draus, dass du mir das nicht schon früher gesagt hast.«
Diesmal lachte der Junge. »Ich wär nicht so sicher, dass meine Antwort die bessere ist; im Moment geht mir der Arsch nämlich ganz schön auf Grundeis, weil ich quer durch ganz London gejagt werde.«
»Irgendwer will dich umbringen«, sagte Beth. »Ich erinnere mich.«
»Oh, wie liebenswürdig von dir«, sagte er und deutete sarkastisch eine Verbeugung an. »Danke.« Er setzte sich wieder auf den nassen Asphalt.
Beths Jeans waren ohnehin völlig durchnässt, also ließ sie sich einfach neben ihn plumpsen. Der Wind meißelte Körper als Halbreliefs aus dem Regen. »Aber wenn du der Sohn von dieser Wahnsinns-Göttin bist«, sagte sie, »wovor hast du dann Angst? Sie kann’s doch sicher mit jedem aufnehmen, der sich mit dir anlegt, oder nicht?«
Sein Lächeln drang nicht bis zu seinen Augen. »Sie ist nicht hier«, antwortete er. »Hab sie nie kennengelernt.« Beth machte Anstalten, sich zu entschuldigen, doch er winkte ab. »Ich bin bei ihrem Seneschall aufgewachsen, Gossenglas. Ich bin durch die Skelette ihrer Tempel am Fluss gerannt und hab mit den versteinerten Eingeweiden der Opfergaben gespielt, die die Grünen Hexen ihr überbracht haben.«
»Es gibt echt Grüne Hexen ? In Greenwich?« Beth war sprachlos.
»Nee, in Sutton – was denn, glaubst du etwa, in Battersea gibt’s ’nen See aus Eierkuchenteig?« Sein Gesicht blieb ausdruckslos; sie wusste nicht zu sagen, ob das ein Witz sein sollte. Dann klang seine Stimme plötzlich hart, schneidend. »Ich habe nichts gelernt, kein Ritual, keine Doktrin – nichts, was mich vorbereitet hätte, nicht auf Reach.« Die Finger seiner linken Hand krümmten sich zu einer Klaue.
» Reach . Ist es das, was dich jagt?«
Er nickte niedergeschlagen.
»Was ist es?«
»Er ist die Krankheit der Stadt«, sagte er tonlos, »und er ist Gier und kannibalischer Hunger und – und ich weiß nicht, was sonst noch. Ich bin ihm nie von Angesicht zu Angesicht begegnet, aber ich habe gesehen, was er anrichtet. Er ist der Krankönig, und die Kräne sind seine Finger und seine Waffen. Er benutzt sie, um sich tief in die Stadt zu graben, und wenn er das tut, geht alles um ihn herum zugrunde.« Er schnaubte verächtlich. »Und er ist eitel. Er baut gläserne Türme, um sich darin zu spiegeln. Meine Mutter war seine einzige Widersacherin; mit jeder neuen Generation zeigte er sich, und sie schlug ihn zurück, immer und immer wieder … doch dann verschwand sie, und seither ist er gewachsen , in seiner schwarzen Grube unterhalb der Kathedrale.«
Er sah Beth in die Augen.
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