Der Wolkenkratzerthron (German Edition)
rollte die Augen. »Sie mag’s eben gern dramatisch. Achte einfach nicht weiter auf sie … « Indem er seine Eisenstange wie einen Hirtenstab schwang, führte er Beth zurück zu der Fußgängerbrücke. »Ich hab’s dir schon mal gesagt, und ich sag’s dir wieder: Geh nach Hause.«
Beth wollte protestieren, doch er schnitt ihr das Wort ab. »Ich mach keine Witze. Mag sein, dass ich bisher nicht wie der Sohn meiner Mutter gehandelt habe, aber ich kann jetzt damit anfangen. Reach wird mich töten, Beth Bradley.« Er sprach ruhig, nüchtern. »Und wenn du bei mir bist, wird er auch dich töten. Ich will das ums Verrecken nicht deinem arbeitslosen Journalisten-Dad erklären müssen.«
»Wie willst du irgendwem irgendwas erklären, wenn du tot bist?«, fragte Beth, ehe sie sich davon abhalten konnte.
Der Junge starrte sie zornig an. »Na sicher, als ob ich’s mir anders überlege, bloß weil du mir so verdammt kleinkariert kommst«, blaffte er.
Beth blieb hartnäckig. »Hör zu, mir ist klar, dass es gefährlich ist. Ich weiß, ich könnte – «
»Das ist keine Frage von könnte .« Er klang aufgebracht. »Für mich, vielleicht , gibt’s hier ein könnte : Ich könnte es schaffen, weit und schnell genug wegzulaufen, um ihn auf Distanz zu halten. Doch für dich gibt’s hier nur ein werde – ich will echt nicht unhöflich sein, aber glaubst du ernsthaft, du wärst mir nicht ständig ein Klotz am Bein? Kannst du an der Fassade eines Wolkenkratzers hochklettern? Kannst du ’ne Hochspannungsleitung entlangrennen, wenn dir ’ne Voltspinne auf den Fersen ist?«
Beth funkelte ihn an. »Ich weiß ja nicht mal, wovon du redest.«
»Japp, das hab ich mir schon gedacht.«
Sie biss die Zähne zusammen. »Eine Sache, von der du gesprochen hast, hab ich durchaus begriffen: weglaufen .« Sie spie das Wort beinahe aus. »Ist das dein Plan? Willst du damit dem Vermächtnis deiner Mutter gerecht werden? Durchs Weglaufen ?«
»Du hast doch keinen Schimmer, wovon du sprichst – «
» Dann erklär’s mir! Ich bin schlau, okay? Ich kann lernen – und vielleicht kann ich sogar helfen. Oder bist du so verdammt arrogant, dass du glaubst, du wärst allein besser dran?«
Er wollte etwas erwidern, doch Beth fuhr ihm über den Mund. »Was denn, du zählst auf deine kleine Laternenfreundin? Falls ich bei der Deutung ihrer verkackten Körpersprache nicht mächtig danebenliege, dann stehen dir ’n paar frostige Nächte bevor.«
»Lek ist nicht meine – «
»Ja klar, was auch immer.« Beth schnaubte verächtlich. »Gibt’s sonst irgendwen? Irgendwen, der bereit ist, sich mit diesem Krankönig anzulegen, vor dem du so dermaßen Schiss hast?«
Während er sie anstarrte, konnte sie die Wut und die Scham und die Einsamkeit spüren, die heiß von ihm ausstrahlten. »Na, mich gibt’s jedenfalls«, sagte sie leise. »Vielleicht hab ich wirklich keinen Schimmer, aber ich hab dir schon einmal das Leben gerettet, so wie du meins. Ich will dir helfen .« Erst als sie sie aussprach, begriff sie, wie wahr diese Worte waren. »Lass mich dir helfen, mehr zu tun, als bloß wegzulaufen.«
Mit seinen grauen Augen blickte er sie forschend an. »Warum?«
»Weil ich auch allein bin«, sagte Beth leise.
Dann verstummte sie. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, die Nacht war jetzt klar und kalt. Beth begann zu zittern.
»Nein, bist du nicht«, sagte er schließlich. »Streck deinen Arm aus.« Und ohne Vorwarnung zog er die messerscharfe Spitze seiner Eisenstange über ihr Handgelenk.
Beth wusste nicht, warum, doch sie sprang nicht zurück, schrie nicht auf. Sie hielt vollkommen still, als er sie wieder und wieder schnitt, und sie fühlte, wie das Blut hervorquoll und auf den nassen Asphalt tropfte.
Sie hielt seinem Blick stand. »Und das war?« Nur ein winziges Zittern schlich sich in ihre Stimme.
Er zuckte die Schultern, beinahe scheu. »Wenn du ausziehst, um ein Soldat in der Armee zu sein, Mädchen, dann musst du das Mal tragen.«
Sie sah hinab auf ihr Handgelenk. Durch das verschmierte Blut konnte sie gerade so eben die feinen Linien der Schnitte ausmachen: Gebäude, angeordnet zu einer Krone.
Ein wilder, berauschender Stolz stieg in ihr auf.
»Es ist auch eine Mahnung. Das Blut soll dich daran erinnern: Das hier ist real , Beth. Diese Wesen werden dir wehtun, und es gibt keine Zaubertür, durch die du flüchten und die du wieder hinter dir zuschlagen kannst, um vor ihnen sicher zu sein. Du kannst nie mehr zurück nach Hause,
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