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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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klang der Wind immer mehr wie von statischem Rauschen überlagerte Stimmen: Wellen knisternder Konversation.
    Fil rieb das Gefühl zurück in seine Arme und Beine. Er spähte hinauf in den oberen Teil des Turms. »Bleib hier«, sagte er. »Es kennt dich nicht, und du willst es sicher nicht kennenlernen.« Er zögerte, sein Gesicht wirkte besorgt, abgehärmt. »Sei vorsichtig, ja?«, sagte er. »Ich hab uns beim Mutternetz für diese Plauderstunde ’ne Amnestie verschafft, doch die Kleinen hier« – er deutete auf die wuselnden Spinnentiere – »können ziemlich lebhaft sein. Aber sie fressen nur Stimmen, also halt einfach den Mund, dann hast du keine Probleme.«
    Er testete eine der Streben kurz mit seinem nackten Fuß, dann begann er im Innern des Stahlgerüsts hinaufzuklettern, so flink und trittsicher, als wäre er selbst eine Spinne. Kurz darauf war er nicht mehr zu sehen.
    Beth schlang die Arme um sich. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte sie wie ein Frösteln. Sie dachte an die Leute, die sie in der Stadt dort unten kannte, und sie fragte sich, ob sie sie wohl jemals wiedersehen würde. Du bist gewarnt worden, dass dich das hier womöglich dein Leben kostet, B , rief sie sich in Erinnerung. Deine Abschiede liegen hinter dir.
    Sie stutzte. B. Warum hatte sie sich so genannt? Es gab nur einen Menschen, der sie je mit dieser zwanglosen Vertraulichkeit angesprochen hatte. Und schon dachte sie an Pen, fühlte einen Schmerz in der Brust, eine Sehnsucht, den verzweifelten Wunsch, diese Weite, diese Aussicht, in deren Genuss nie jemand kam, mit ihr zu teilen. Sie schob den Gedanken hastig beiseite.
    Von der Höhe wurde ihr ein wenig übel, also wandte sie den Blick ins Turminnere – und entdeckte das Bündel. Es war etwa anderthalb Meter hoch und knapp einen Meter breit: eine Art Ballen aus aufgewickelten Stahldrähten, der an einer Strebe über ihr hing wie ein fettes metallenes Wespennest. Etwas Dünnes baumelte an der Unterseite aus ihm heraus. Beth runzelte die Stirn und ging darauf zu, um es sich näher anzusehen.
    Es war ein Schnürsenkel.
    Ein Gefühl der Enge schnürte Beth die Kehle zu, und sie wurde sich der Abmessungen des Bündels auf eine neue und schreckliche Weise bewusst. Sie streckte den Arm aus. Als ihre Fingerspitzen den Schnürsenkel berührten, begann er träge hin- und herzuschwingen.
    Die schnatternden Spinnen achteten nicht auf sie.
    Leise fluchend griff Beth nach der nächsten Strebe und kletterte langsam hinauf Richtung Bündel. Für einen Moment verlor sie auf dem regennassen Stahl den Halt, und ihr Herzschlag setzte aus, doch sie zog sich erneut dicht an das Metall.
    Bleib locker, Beth , ermahnte sie sich. Du hast schon schlimmere Kletterpartien riskiert, bloß um ’n verschissenes Dach zu taggen.
    Als sie mit der Oberseite des Bündels auf einer Höhe war, erkannte sie inmitten des Drahtgewirrs einige rote Haarsträhnen, die sich in der Brise wiegten wie Meeresalgen. Durch die Lücken zwischen den Drähten vermochte Beth ein Gesicht auszumachen: ein Mädchen, kaum älter als sie selbst. Der Kragen ihres Mantels starrte vor Dreck. Spinnweben spannten sich filzig über ihre Augenhöhlen. Ein dickes Kabel steckte in ihrem Mund, und Beth würgte fast, als sie sah, wie die Kehle des Mädchens sich darum dehnte.
    Blecherne Stimmen ergossen sich in die Luft, als strömten sie aus einem Leck in dem Drahtgewirr, das in den Ohren des Mädchens steckte:
    Wir lieben dich. Daheim, geschützt vor Gefahr. In Sicherheit. Dir nie, niemals wehtun.
    Die Augen des rothaarigen Mädchens waren nicht ganz geschlossen, seine Lider flatterten im Takt der Worte.
    Sie fressen Stimmen . Beth erinnerte sich an Fils Satz, während die Spinnenrufe in der Luft umherwirbelten. Das Kabel im Rachen des Mädchens zuckte abscheulich, als würde es die Laute direkt aus seiner Kehle saugen.
    Beth streckte sich und griff nach dem Kabel. Alles verlangsamte sich albtraumhaft, während sie es herauszog.
    Jäh schlug das Mädchen die Augen auf. Es schrie, als das Ende des Kabels aus seinem Mund glitt.
    Wir lieben dich wir lieben dich wir lieben wir lieben dich wir lieben dich wir lieben dich wir lieben wir lieben dich wir lieben dich …
    Augenblicklich wandten die Spinnen sich um, Ordnung kam in ihr chaotisches Wuseln. Sie überschwemmten das Metallgerüst wie eine glitzernde Welle. Ehe Beth das Ganze noch recht begriff, krabbelten sie ihr schon über die Knöchel und durchs Haar, stachen ihr Nadelfüße in die Kopfhaut und

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