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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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will einfach nicht passen.«
    Ihre Mutter hantierte am Herd und machte einen Satz rückwärts, als das Öl spritzte. Hinter ihr auf der Arbeitsplatte stapelten sich bergeweise Pakoras und Samosas, das Papier darunter war durchsichtig und glänzte von all dem Fett.
    »Mum?«, fragte Pen. Es fiel ihr schwer, die Laute zu formen, wegen der Narben auf ihren Lippen. »Wofür ist das ganze Essen?«
    Ihre Mutter warf ihr einen belustigten Blick zu und drückte ihre Schulter. »Aber Liebes, das ist für deine Hochzeit. Warum würd ich mir sonst wohl all diese Mühe machen?«
    Pen wollte aufstehen, um zu helfen, doch ihre Mutter bedeutete ihr, sich ja wieder hinzusetzen. Sie widersprach nicht. Na klar, sie würde bald heiraten, auch wenn sie in diesem Augenblick nicht die leiseste Ahnung hatte, wen eigentlich. »Na ja, Mama«, sagte sie, »ist ja nur ’n klein bisschen mehr, als du uns dreien als leichte Zwischenmahlzeit servieren würdest.«
    Dann lachten sie alle herzlich über den halbgaren Scherz.
    Ihr Vater knallte frustriert seinen Stift auf den Tisch.
    »So ein Mist, ich krieg’s einfach nicht hin, dass es passt. Wir werden das Ganze abblasen müssen. Komplett.«
    Ihre Mutter setzte eine enttäuschte Miene auf und fing an, tellerweise bereits gekochtes Essen in den Müll zu werfen.
    »Mum!« Pen war entsetzt. »Dad, worum geht’s hier?«
    »Um deine Mitgift – komm her, vielleicht hast du ja ’ne Lösung für diesen Schlamassel.«
    Pen stand auf und ging um den Tisch herum. Sie schaute ihrem Vater über die Schulter. Anstelle von Zahlenkolonnen war in Beth Bradleys unverwechselbarem Stil ein Gesicht auf die linierten Seiten der Kladde gezeichnet, ein Gesicht mit geschwollenen Narben und schartigen Lippen.
    »Er verlangt eine astronomische Summe dafür, so was zu heiraten«, sagte ihr Vater und streichelte liebevoll ihre Hand, die sie ihm auf die Schulter gelegt hatte. »Aber ich schätze, wir müssen versuchen, das Geld irgendwie aufzutreiben.«
    Pen betastete mit der anderen Hand ihr Gesicht, fühlte die Narben und Blutergüsse. Ihre Finger griffen ins Leere, wo bis vor Kurzem noch eins ihrer Ohrläppchen gewesen war.
    »Wir geben uns alle Mühe, das Beste aus dir zu machen, meine Tochter«, sagte ihre Mutter gütig. »Aber mit einem Gesicht wie deinem ist das nun mal nicht so einfach.«
    Pen blickte an ihr vorbei und sah ihr eigenes Spiegelbild im Hahn des Spülbeckens.
    Wach auf.
    Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf
    Luft jagte Pen durch die Nase, und sie hustete und riss die Augen auf. Es war das erste Mal, dass sie von ihren Eltern geträumt hatte, seit dieses Geschöpf sie in seinen Fängen hielt. Sie hatte sie sich vorgestellt , wenn sie wach war: wie sie nach Hause kam, wie ihre Mutter sie ausschimpfte mit Tränen der Erleichterung in den Augen. Bis eben jedoch waren sie nie in ihren Schlaf vorgedrungen.
    Der Draht packte zu und rollte sie auf den Rücken.
    Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf Wach auf
    Die Worte waren überall um sie herum, in den Beton gekratzt in großen, gezackten Buchstaben. Frischer Staub verkrustete ihre Finger. Das drahtige Exoskelett schwirrte auf ihrer Haut. Sie spürte seine Ungeduld – oder war’s ihre Ungeduld? Mittlerweile ließ sich kaum mehr sagen, von wem diese oder jene Empfindung eigentlich ausging.
    Was ist? , fragte sie es in Gedanken. Was ist los?
    Als Antwort hievte das Wesen sie auf die Beine und benutzte ihre Hand, um die Plane beiseitezuziehen. Im Licht der Baustellenlampen blinzelte Pen einen Moment. Das Getöse aufeinanderschlagenden Metalls hallte durch die halbfertigen Bauten. Ungläubig beobachtete Pen, wie Klemmschrauben abfielen, wie sich Metallstangen lösten und das gesamte Gerüst, das um die Gebäude herumlief, in einer gewaltigen Stahllawine hinabrauschte. Doch statt krachend in einem riesigen Haufen im Staub zu landen, drehten die Streben sich um Gelenke in immer neue Formen, wirbelten schneller und schneller, bildeten Wolken aus schwirrendem Metall. Während sie zusah, spürte Pen, wie die Erregung des Drahts sie durchströmte, und sie merkte, dass sie nach Atem rang.
    Dann plötzlich brachte sich der wirbelnde Stahl in erkennbare Formen: gigantische metallene Tiere, Hunde oder vielleicht sogar Wölfe, und auch Skelettwesen in Menschengestalt. Die Stahlmenschen bückten sich und tätschelten die schimmernden Hälse der Bestien, die den Kopf in den Nacken warfen

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