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Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Der Wolkenkratzerthron (German Edition)

Titel: Der Wolkenkratzerthron (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Pollock
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und ein widerhallendes stählernes Heulen ausstießen. Wölfe also.
    Die Gerüstkreaturen trabten mit federnden Sätzen davon.
    Wir reiten , kratzte der Draht mit Pens zittrigem Finger in die Betonwand, und Adrenalin flutete ihre Adern. Der Draht empfand keine Furcht, also tat sie es auch nicht. Sie merkte, wie sich ihre Beine beugten, dann sprang sie. Die Luft brannte auf ihren Wunden, während sie fiel; die Lichter der Kräne blitzten vorbei. Zwei stachlige Ranken schossen von ihren Füßen herab und berührten den Grund. Die spindeldürren Drahtbeine bogen sich unter ihr, bremsten sanft ihren Fall, ließen sie behutsam zu Boden sinken.
    Ein Wolf neigte ehrerbietig den Kopf, und Pen kletterte auf seinen Rücken. Der Draht verschnürte sie sicher mit den stählernen Streben, dann wandte das Biest sich mit einem weiteren gellenden Heulen um und trottete seinen Rudelgenossen nach.
    Die eisernen Riesen marschierten neben ihr. Der Klang ihrer Schritte auf dem Schiefergestein der Baustelle dröhnte wie Schlachtgetrommel.



Kapitel 31
    Ich erinnere mich noch gut an die ersten Geschichten, die Gossenglas mir von meiner Mutter erzählte. Glas war damals eine Frau, und sie wies ihre Ratten an, ihren Rockschoß für mich zu glätten, bevor wir uns rücklings an den Hang eines Hügels aus Blechdosen, Kondomen und Mulch schmiegten. Glas empfand die Erhabenheit der Deponie seit jeher als Trost; es ließ sich dort leichter über die guten alten Zeiten reden, ohne dass gleich saure Milch aus ihren Eierschalenaugen strömte.
    Dieser faulige Geruch gibt mir noch heute jedes Mal das Gefühl, zu Hause zu sein.
    Glas wiegte mich vor und zurück, und obwohl ich ganz stolz und entrüstet tat, genoss ich im Stillen doch jede Sekunde.
    »Deine Mutter«, begann sie, »ist ein unglaubliches Wesen … «
    Ich hatte nie auch nur den Hauch einer Erinnerung an meine Mutter gehabt; mir war nicht einmal richtig bewusst gewesen, dass sie in meinem Leben fehlte. Aber ich merkte sofort, das hier würde wichtig werden. Ich unterbrach also die Fütterung von Glas’ Ratten mit pappig kaltem gebratenen Reis und lauschte, und so erfuhr ich, dass meine Mutter dieses unglaubliche Wesen war: eine Göttin. Außerdem hörte ich, dass von all den Eigenschaften, die sie in sich vereinte, diejenige, dass sie meine Mutter war, die mit Abstand am wenigsten bedeutsame war.
    Ungeachtet dieser folgenschweren Enthüllung wurde mir langweilig, sodass ich von Glas’ Schoß krabbelte und mich daranmachte, aus alten Lackdosen eine Burg zu bauen. Ich begriff nicht das Geringste.
    Später jedoch …
    Unsere Erinnerungen sind wie eine Stadt: Einige Gebäude reißen wir nieder, und dann verwenden wir die Trümmer der alten, um neue zu bauen. Manche Erinnerungen sind aus kristallklarem Glas, blendend schön, wenn sie das Sonnenlicht einfangen, aber dann gibt es die dunkleren Tage, an denen sich in ihnen nur die bröckelnden Mauern ihrer heruntergekommenen Nachbarn spiegeln. Manche Erinnerungen sind unter Jahren beharrlichen Bauens begraben; ihre hallenden Flure werden vielleicht nie wieder gesehen oder betreten, und dennoch sind sie die Fundamente für alles, was über ihnen errichtet wird.
    Glas hat mir mal erklärt, im Grunde sei es genau das, woraus die Leute bestehen: aus Erinnerungen, den Erinnerungen in den eigenen Köpfen und den Erinnerungen an sie in den Köpfen der andern. Und wenn Erinnerungen wie eine Stadt sind und wir aus Erinnerungen bestehen, dann ist auch jeder von uns wie eine Stadt. Ich habe diesen Gedanken schon immer tröstlich gefunden.
    Vor zehn Jahren lieferte sich ein sechsjähriger Junge mit einem glühenden Glasmädchen ein Wettrennen durch das warme Ziegellabyrinth der Lots Road Power Station, und hätte man ihn damals gefragt, hätte er sicher gesagt: » Klar kenn ich meine Mutter.«
    Wenn man ihn davon abhalten könnte, sich vor dem verschreckten Mädchen aufzuplustern, indem er in den Wassertanks dieses riesigen Kraftwerks schwimmt, wenn man ihn dazu bringen könnte, sich vom Anblick seiner Freundin loszureißen, die ein Heidenspektakel veranstaltet, indem sie sich selbst an den Starkstrom anschließt und so hell strahlt wie eine winzige Sonne, und wenn man diesen wortkargen kleinen Scheißer dazu überreden könnte, den Mund aufzumachen, würde er einem alles über seine Mutter erzählen.
    »Bist du blind?«, würde er fragen. »Bist du doof? Da ist sie doch. Genau da – «
    – bei Elektra und ihm, während die beiden sich gegenseitig dazu

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