Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
Vom Netzwerk:
vor, als sie nun vor ihm zurückwich und das Gleichgewicht verlor. Als Sano sie packte und festhielt, schrie sie und schlug um sich.
    »Habt keine Angst«, rief Sano über das Krachen des Donners hinweg. »Ich tue Euch nichts.«
    Als die Frau sich immer noch wehrte, kamen die Ermittler Sano zu Hilfe. Die Frau brach in Tränen aus. »Nein!«, rief sie schluchzend. »Lasst mich los! Bitte!«
    »Lasst sie«, befahl Sano seinen Männern. Dann schüttelte er die Frau und fragte drängend: »Wer seid Ihr?«
    Als sie Sano anschaute, verschwand die Leere aus ihrem Blick, und ihre Gegenwehr erlahmte. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck des Erstaunens, vermischt mit Hoffnung. Mit einem Mal glaubte Sano zu wissen, wen er vor sich hatte. Während Sturm und Regen ihn und die Frau umtosten, stand ihm plötzlich ein Bild aus der Kindheit vor Augen.
    Damals war seine Mutter Etsuko oft mit ihm in ein öffentliches Badehaus gegangen, weil in ihrem kleinen ärmlichen Heim kein Platz für einen Badezuber gewesen war. Sano musste daran denken, wie Etsuko im heißen Wasser untergetaucht war und mit patschnassem Gesicht und triefenden Haaren wieder zum Vorschein kam.
    Die Frau, die jetzt vor Sano stand, durchnässt bis auf die Haut, war ein jüngeres Abbild seiner Mutter.
    »Heißt Ihr Chiyo?«, schrie Sano gegen den Sturm an.
    »Ja«, erwiderte seine Cousine, deren Stimme vom Tosen des Unwetters beinahe verschluckt wurde. Dann schlossen sich ihre Augen, und ihr Körper erschlaffte in Sanos Armen.

5.

    Eine runde Laterne warf silbriges mondhelles Licht in ein Gemach, in dem Yanagisawa und Yoritomo bäuchlings auf niedrigen Holztischen lagen. Ihre makellosen nackten Körper waren fast gleich gebaut. Yanagisawa war fast noch genauso kräftig und schlank wie sein dreiundzwanzigjähriger Sohn Yoritomo. Ihre Gesichter, die einander zugewandt waren, besaßen die gleiche ebenmäßige Schönheit. Ihre Haut schimmerte von duftendem Öl, während zwei Masseure ihnen den Rücken kneteten und die Schmerzen linderten, die das Turnier auf dem Palastgelände an diesem Morgen hinterlassen hatte. Aus einem Gefäß aus Messing stieg duftender Weihrauch empor, schwer und süß, und übertünchte den Geruch nach Feuchtigkeit und nach Verfall. Draußen goss es in Strömen, und der Donner grollte.
    »Darf ich dich etwas fragen, Vater?«, wollte Yoritomo wissen, so höflich und ehrerbietig wie immer.
    »Nur zu«, antwortete Yanagisawa.
    Er zögerte nicht, sich im Beisein der Masseure mit Yoritomo zu unterhalten. Viele reiche Bürger beschäftigten blinde Masseure, eine alte Tradition. Yanagisawas Masseure waren taub und stumm, sodass sie Gespräche weder mithören noch davon erzählen konnten. Normalerweise konnte Yanagisawa es nicht ausstehen, wenn er ausgefragt wurde. Er misstraute den meisten Menschen und verachtete, ja hasste sie, und das nicht ohne Grund: Seine Feinde waren ihm schon so oft in den Rücken gefallen, dass es an ein Wunder grenzte, dass er nicht schon längst tot war.
    Für Yoritomo galt dies alles nicht. Yanagisawa liebte seinen Sohn über alles. Er war der einzige Mensch, dem er sich verbunden fühlte - sein eigen Fleisch und Blut. Yanagisawa hatte noch vier Kinder, aber die zählten für ihn kaum. Nur Yoritomo würde er alle seine Geheimnisse anvertrauen - oder fast alle.
    »Herrscht zwischen dir und Sano wirklich Frieden?«, fragte Yoritomo.
    »Zurzeit ja«, antwortete Yanagisawa. Aber einige alte Rechnungen können niemals beglichen werden, fügte er in Gedanken hinzu.
    »Ich begreife nicht, wie du mit ihm befreundet sein kannst«, sagte Yoritomo. Er und Sano waren einst enge Vertraute gewesen, wie Yanagisawa wusste. Während seiner dreijährigen Verbannung hatte Sano die Gelegenheit genutzt, freundschaftlichen Umgang mit Yoritomo zu pflegen, dem Geliebten des Shōgun. Yoritomo hatte Zuneigung gefasst zu Sano und ihn mutig gegen seine Feinde verteidigt. Aber damit war jetzt Schluss. »Überleg doch nur, was er uns angetan hat!«, stieß Yoritomo hervor.
    In seiner Stimme lag die Wut eines Mannes, dessen Vertrauen und Zuneigung missbraucht worden waren. Im Jahr zuvor hatte Sano ihn des Hochverrats beschuldigt, hatte eine Gerichtsverhandlung inszeniert und sogar so getan, als würde er Yoritomo hinrichten lassen, um Yanagisawa aus seinem Versteck zu locken. »Ich hatte noch nie solche Angst!«, stieß Yoritomo hervor.
    Das galt auch für Yanagisawa, der in Panik geraten war, als er vom Todesurteil gegen seinen Sohn erfahren

Weitere Kostenlose Bücher