Der Wolkenpavillon
schicken lassen.«
Major Kumazawa rief den Dienern, die auf der Veranda erschienen, Befehle zu. Dann wollte er von Sano wissen: »Wo habt Ihr meine Tochter gefunden?«
»In einer Gasse in Asakusa«, antwortete Sano.
»Ich bringe sie ins Haus.« Als der Major seine Tochter in die Arme nahm, erwachte sie plötzlich, schrie und schlug um sich.
»Nein!«, rief sie. »Rührt mich nicht an! Geht weg!«
»Alles ist gut, mein Kind«, sagte Kumazawa. Seine Stimme war so sanft, als würde er zu einem kleinen Mädchen sprechen. »Ich bin es, dein Vater. Du bist zu Hause.«
Chiyos Bewegungen erlahmten, dann lag sie ganz still in Kumazawas Armen. »Vater ...«, flüsterte sie.
Als der Major seine Tochter zum Haus trug, eilte seine Frau zu ihr, streichelte ihre bleichen, schmutzigen Wangen und flüsterte ihr zärtliche Worte zu. Major Kumazawa blickte über die Schulter zu Sano.
»Ich stehe in Eurer Schuld«, sagte er schroff. »Wenn Ihr und Eure Leute ins Haus kommen wollt - bitte sehr.«
»Gleich hier entlang, ehrenwerter Kammerherr«, sagte ein Diener.
Sano bemerkte sehr wohl, dass sein Onkel ihn nicht gern in seinem Hause sah, aber er war neugierig, die Villa von innen zu sehen. Vielleicht kamen dabei weitere Erinnerungen hoch.
»Kommt«, sagte er zu Marume und Fukida und folgte dem Diener ins Haus.
Sie ließen ihre Schuhe und Schwerter im Eingangsflur. Dann wurden sie einen Gang mit einem glänzenden Fußboden aus Zedernholz entlanggeführt und kamen an Gemächern vorbei, die hinter papierenen Trennwänden verborgen waren. Sie gelangten in ein Empfangsgemach. Hinter einem Podest befand sich ein Alkoven, in dem eine Vase mit Chrysanthemen stand; außerdem hing dort ein Wandgemälde, das eine Landschaft zeigte. Das Haus kam Sano irgendwie bekannt vor, aber das lag vermutlich daran, dass es die für Samurai typische Bauweise und Einrichtung besaß - Sanos Villa sah nicht viel anders aus, nur dass sie viel größer war.
Sano dachte an seine Kindheit zurück, an das winzige Haus seiner Familie und an die kleine, schäbige Schule für Kampfkunst, die sein Vater geleitet hatte. Er dachte an die kargen Mahlzeiten in seiner Kindheit und an die langen Winter, als das Haus eine Eishöhle gewesen war, weil sie sich keine Kohlen hatten leisten können.
Sano wusste, dass seine Mutter sehr darunter gelitten hatte, mehr noch als er selbst. Major Kumazawa musste von der Not und der Armut seiner Schwester gewusst haben. Er hätte ihr helfen können, aber er hatte keinen Finger gerührt für sie.
Schließlich kam Kumazawa ins Empfangsgemach. »Meine Gemahlin und die Hausmädchen kümmern sich um Chiyo«, verkündete er, blickte Sano und die Ermittler an und machte eine auffordernde Handbewegung. »Bitte, nehmt Platz.«
Sano kniete sich auf den Ehrenplatz neben dem Alkoven, Marume und Fukida ließen sich in seiner Nähe nieder. Major Kumazawa kniete sich auf das Podest. Er bot keine Erfrischungen an. Es war ihm anzumerken, dass er sich unbehaglich fühlte. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass er sich mit einem Fremden unterhalten musste, der ein Blutsverwandter war - und zugleich ein Ausgestoßener aus dem Familienklan. Auch Sano fühlte sich nicht gerade wie zu Hause.
»Ich habe in ganz Asakusa vergeblich nach Chiyo gesucht«, begann Major Kumazawa. »Wie habt Ihr sie gefunden?«
»Ich habe sie bemerkt, als sie durch das Unwetter geirrt ist«, erwiderte Sano.
»Was für ein Glückstreffer«, sagte der Major. Erst dann schien er zu bemerken, wie ungeschickt er sich ausgedrückt hatte. »Ihr habt mir die Tochter zurückgebracht. Bitte verzeiht mein schlechtes Benehmen.« Zum ersten Mal schien er ehrlich zu bedauern, wie er sich Sano gegenüber verhalten hatte. »Ich danke Euch vielmals.«
Sano verbeugte sich und nahm damit die Entschuldigung und den Dank an.
»Wie ist Chiyo überhaupt nach Asakusa gekommen?«, wollte Major Kumazawa wissen.
»Offenbar hat jemand sie entführt und sie dann auf der Straße ausgesetzt«, antwortete Sano.
»Wer?« Der Major ballte die Fäuste. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut.
»Das weiß ich genauso wenig wie Ihr«, antwortete Sano. »Während ich mich um Eure Tochter gekümmert habe, habe ich meine Leute losgeschickt. Sie sollten sich umhören. Aber wegen dem Unwetter waren die Straßen menschenleer.«
Major Kumazawa starrte düster vor sich hin. »Chiyo war zwei Tage lang verschwunden. Wo ist sie gewesen? Und was ist in dieser Zeit mit ihr geschehen? Ich ...«
Ein lautes Schluchzen
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