Der Wolkenpavillon
brannte die Sommersonne vom Himmel. Nachdem Sano vor der Villa aus dem Sattel gestiegen war, begrüßte Chiyo ihn an der Tür. Sie hatte sich vollkommen verändert, seit Sano sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie hatte wieder zugenommen und wirkte frisch und gesund. Ihr Lächeln war fröhlich. Sie hatte den Säugling auf dem Arm, während ihr kleiner Sohn sich an ihrem Kimono festhielt und Sano neugierig musterte.
»Willkommen, ehrenwerter Vetter!« Chiyo verbeugte sich. »Ich danke Euch tausendmal, dass Ihr dafür gesorgt habt, dass ich mit meinen Kinder zusammen sein kann.«
Es hatte ihn ziemliche Mühe gekostet. Zuerst hatte er auf Chiyos Ehemann eingewirkt, aber der wollte nichts mehr mit Chiyo zu tun haben und hatte es abgelehnt, dass sie die Kinder sehen durfte. Daher hatte Sano einen Kompromiss erzwungen: Die Kinder durften nun jeden zweiten Monat bei Chiyo auf dem Anwesen ihres Vaters verbringen. Chiyos Ehemann war aus Wut ins Lager von Sanos Feinden gewechselt und hatte sich der Yanagisawa-Partei angeschlossen. Aber das war in Sanos Augen ein geringer Preis für Chiyos Glück.
»Ich möchte gern mit Eurem Vater sprechen«, sagte Sano. »Ist er zu Hause?«
Chiyo lächelte, als hätte sie eine erfreuliche Neuigkeit, von der Sano noch nichts wusste. »Ja. Kommt herein.«
Als Sano das Empfangsgemach betrat, sah er eine Frau auf dem Ehrenplatz vor dem Alkoven knien. Die Frau trank Tee mit Major Kumazawa und dessen Gemahlin.
»Mutter!«, stieß Sano verwundert hervor. »Was tust du denn hier?«
Etsuko lächelte ihn liebevoll an. »Major Kumazawa hatte mir einen Brief geschrieben und mich zu einem Besuch eingeladen.« Ihre neue Ehe und ihr neues Leben auf dem Lande bekamen ihr sichtlich gut. Sie sah jung aus, ihr Gesicht hatte eine frische Farbe und war beinahe faltenlos. Sie schien glücklich zu sein, ihren Bruder in dem Haus wiederzusehen, in dem sie aufgewachsen war. »Ich bin seit drei Tagen hier. Übrigens haben wir gerade über dich gesprochen.« Sie wies auf den freien Platz neben sich. »Bitte setz dich.«
Doch Sano blieb stehen. Er blickte Major Kumazawa an. »Ich dachte, wir wären uns einig, dass es das Beste ist, wenn unsere Familien getrennt bleiben.«
Ein Anflug von Verärgerung huschte über Kumazawas Gesicht. »Das ist wahr. Aber nach allem, was Ihr für meine Tochter getan habt und auch für mich und was Ihr dafür in Kauf nehmen musstet ... habe ich meine Meinung geändert.« Zum ersten Mal war seine Stimme frei von dem gewohnten schroffen Unterton. »Außerdem habe ich Etsuko vermisst und wollte sie wiedersehen.«
Bruder und Schwester, seit vierundvierzig Jahren getrennt, fühlten sich in der Gegenwart des anderen sichtlich wohl, auch wenn sie ihre Zuneigung noch nicht offen zeigten. Es gab viel, was Etsuko ihrem Bruder verzeihen musste.
»Mittlerweile haben wir uns schon wieder sehr gut kennengelernt«, sagte Etsuko.
Sano nickte. »Das sehe ich.«
»Und ich sehe nun, dass Ihr viele gute Eigenschaften von Eurer Mutter geerbt habt«, sagte Major Kumazawa. »Ihr seid beide bereit, euer Leben aufs Spiel zu setzen, um das zu tun, was ihr für richtig haltet. Das nenne ich Mut. Man könnte es allerdings auch Starrköpfigkeit und Leichtsinn nennen. Trotzdem sind es ehrenvolle Eigenschaften.«
Sano musste lächeln. Mit einem solchen Lob aus dem Mund seines Onkels hatte er nicht gerechnet, und er musste zugeben, dass es ihm gefiel. Außerdem milderte es die Vorwürfe und Anschuldigungen, mit denen der Major ihn überhäuft hatte. Doch Sano hätte sie ihm seiner Mutter zuliebe ohnehin verziehen.
»Setzt Euch zu uns!«, forderte der Major ihn auf.
Sano kam der Aufforderung nach. Die Gemahlin des Majors schenkte ihm Tee ein und reichte ihm Reisküchlein. Es waren das erste Getränk und die ersten Bissen, die Sano im Hause seiner Ahnen zu sich nahm. Sie stillten nicht nur seinen Hunger und seinen Durst, sondern vor allem seine Sehnsucht nach einer familiären Verbindung, die letztendlich der Grund dafür gewesen war, dass er sich bereit erklärt hatte, Major Kumazawa und dessen Klan zu helfen.
»Ich habe gehört, was Euch wegen Nobukos Entführung widerfahren ist. Eure Gemahlin hat Chiyo geschrieben und ihr alles erzählt«, sagte der Major. »Ich könnte es Euch nicht zum Vorwurf machen, wenn Ihr mir die Schuld an alldem geben würdet. Es tut mir leid.«
»Ihr habt nichts damit zu tun«, entgegnete Sano, erstaunt über die Verwandlung seines Onkels. »Die Schuld liegt allein bei
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