Der wunderbare Massenselbstmord
zischte und fauchte. Aus dem Motorraum stieg Dampf, da die übertourte Maschine das Kühlwasser zum Kochen gebracht hatte. Korpela wandte sich zum Passagierraum um, wo dreißig erschütterte Menschen saßen, die Gesichter weiß vor Todesangst.
23
Die Selbstmörder stürzten aus dem Bus und wischten sich den Angstschweiß von den Gesichtern. Korpela schaltete den Motor aus und stieg als Letzter vom Sitz. Uula Lismanki und Seppo Sorjonen kamen angerannt. Uula wirkte leicht enttäuscht darüber, dass der mit so viel Eifer initiierte Massenselbstmord abgebrochen wor den war. Seppo Sorjonen hingegen war gerührt und glücklich über die eingetretene lebensbejahende Wende. Er stürzte auf die Überlebenden zu, um sie zu beglück wünschen, er umarmte alle einzeln, klopfte ihnen auf die Schultern und vergoss echte Tränen.
Uula Lismanki fragte, was schief gegangen sei. Dasselbe fragte Korpela. Wer waren die Unglückli
chen, die den Halteknopf gedrückt hatten? Was sollte das alles? Er hatte in letzter Sekunde eine Vollbremsung machen müssen. Er war bereits so alt, dass er kein Verständnis für solche Scherze hatte und sie auch nicht billigte. Wenn einmal beschlossen worden war zu ster ben, dann starb man auch. Entweder – oder. Wenn jemand nicht mitkommen wollte, dann mochte er weg bleiben.
»Solche Gewaltakte schaden außerdem dem neuen Fahrzeug«, knurrte Korpela und trat wütend gegen den Vorderreifen des Busses, dass es dröhnte.
Die anderen schwiegen. Vom offenen Polarmeer her wehte ein kalter Wind. Die nimmermüde Sonne hing am nördlichen Horizont und färbte mit ihrer Glut die Was seroberfläche blutrot. Die schweren Wellen brachen sich unter mächtigem Dröhnen am steilen Felsen. Die rotschnäbeligen Papageientaucher suchten Streit mit den frechen Seemöwen. Ab und zu regnete es Vogel scheiße zwischen die Selbstmörder.
Korpela erklärte, dass er nicht gewillt sei, die ganze Nacht hier am Rand des Abhangs zu stehen. Er stieg in den Bus und forderte auch die anderen auf, einzustei gen. Man werde es erneut versuchen.
Schweigend stiegen die Menschen ein. Uula Lismanki fragte, ob sie es diesmal ernst meinten. Lohnte es, dass er sich ein zweites Mal auf den Aussichtsplatz begab, um die Fahrt ins Meer zu beobachten?
Der Oberst ergriff jetzt das Wort. Er sprach mit ern ster, ruhiger Stimme ins Mikrofon. Er sagte, dass er gesehen habe, wie mindestens zehn oder fünfzehn Rei sende auf dem Höhepunkt der Todesfahrt den Halte knopf gedrückt hatten. Er bekannte, selbst ebenfalls darunter gewesen zu sein, es von Anfang an geplant zu haben.
Korpela fragte, warum sich die Leute in seinen Bus gesetzt hatten, wenn sie gar nicht sterben wollten. Der Oberst sagte, dass er aus therapeutischen Gründen das Risiko eingegangen sei. Erfahrungen mit dem Tod stär ken den Lebenswillen, das sei eine alte Weisheit.
»Aber was hättest du gesagt, wenn ich den Bus nicht angehalten hätte? Dann lägen wir jetzt als Dorschfutter unten auf dem Meeresgrund«, knurrte Korpela.
»Man muss im Leben manchmal Risiken eingehen«, wiederholte der Oberst. Er schlug vor, dass man für diesen Tag von der Todesfahrt absehen sollte. Die gerade gemachte Erfahrung war zu erschütternd gewesen. Alle brauchten Zeit und Ruhe, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er ordnete an, dass alle gemeinsam zu Uulas Sachen zurückkehren sollten, um ein Lager auf zuschlagen. Sie würden dort übernachten, eventuell auch die eine und andere Flasche von dem Schnaps aus Alattio öffnen. Am Morgen würden sie dann den zweiten und endgültigen Absturz wagen.
Der Vorschlag fand vorbehaltlose Zustimmung. Die Gruppe kehrte zu der Stelle zurück, von der sie die Todesfahrt angetreten hatte. Dort wurde aus Uulas Brennholz ein Lagerfeuer entfacht. Die Frauen machten belegte Brote zurecht. Sie beschlossen, die ganze Nacht aufzubleiben. Lismanki und Sorjonen mussten die Schnapsflaschen wieder herausgeben, sie wurden aufge teilt. Erleichterte Stimmung verbreitete sich im Lager. Die Menschen waren glücklich, gleichsam wie neugebo ren. Der Trauerverderber Sorjonen begann unterhaltsa me Geschichten zu erzählen, die er mit seinen lebensbe jahenden Ansichten würzte. Uula Lismanki erzählte, dass er am Abhang zwei Deutsche und einen Finnen gesehen hatte, die gerade durchs Fernrohr Vögel beo bachteten, als Korpelas Bus auf das Meer zuraste. Nachdem die Fahrt abgebrochen worden war, waren die drei näher gekommen, um zu horchen, was die
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