Der wunderbare Massenselbstmord
Pedanterie: Die Wege waren blitzsauber geharkt und von jeder Tannen nadel befreit, die Rabatten korrekter geschnitten als die Barthaare eines Gigolo, die Steine und Grabmale auf den Millimeter genau in geraden Reihen ausgerichtet. Sogar die Eichhörnchen wirkten hier, als trügen sie Sonntagsstaat, und sie benahmen sich diskret würde voll.
In einem grünen Winkel entdeckten die Besucher eine Skulptur von James Joyce, der berühmte Schriftsteller lag hier begraben. Helena Puusaari sagte, dass sie ein Werk von James Joyce gelesen habe, die Übersetzung stamme von Pennti Saarikoski.
»Wenn wir Finnen doch auch solche wunderbaren Schriftsteller hätten«, seufzte sie.
Wir haben ja Aleksis Kivi, wollte der Oberst bemerken, aber dann fiel ihm ein, was Regisseur Jouko Turkka mit Kivis »Sieben Brüdern« gemacht hatte. Er hatte die sieben schlimmsten Flegel der Theaterhochschule dazu gebracht, diesen nationalen Schatz grässlich zu verhun zen.
Am Nachmittag stießen die beiden überraschend auf die Gruppe um Onni Rellonen, die den Reichtum der Stadt und die Üppigkeit der Straßenreklame bestaunt hatte. Sie setzten sich auf ein Bier ins Straßencafé. Das Gespräch kreiste um das Geld der Welt und die Wer bung. Dorfschmied Taisto Laamanen aus Parikkala erinnerte daran, dass früher niemand für irgendetwas Reklame gemacht habe, und trotzdem sei man zurecht gekommen. Es sei ihm nie eingefallen, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, dass er Pferde beschlage und Sensen dengle. Tenho Utriainen, der Bahnbeamte aus Iisalmi, erklärte, dass Armut relativ sei. Der heutige Arme habe mehr Geld als ein durchschnittlich begüter ter Bürgerlicher vor hundert Jahren. Trotzdem leide er unter der Armut, weil er um sich herum reichere Men schen sehe und, was am schlimmsten sei, jede Menge Werbung, die sich mit verlockenden Angeboten über schlage. Utriainen war zu dem Schluss gekommen, dass gerade die Werbung der Hauptgrund für die Selbstmorde der Finnen war. Was lohnte es zu leben, wenn man sich doch nicht all die herrlichen Dinge leisten konnte, die einem dauernd zum Kauf aufgedrängt wurden. Utriai nen schätzte, dass sich, deprimiert von der Werbeflut, jährlich mindestens fünfhundert Menschen in Finnland umbrachten.
Utriainen fand, dass die Werbung auf der ganzen Welt verboten werden müsste, denn sie war genauso teuer wie die Rüstung, aber viel zerstörerischer. Finnland könnte Vorreiter in dieser Sache sein.
Der Oberst ging mit Helena Puusaari zum Abendessen ins »Affelkammer«, ein kleines traditionsreiches Restau rant in der Altstadt. Marschall Mannerheim pflegte hier einzukehren und zu trinken, wenn er auf seinen Reisen nach Zürich kam, erzählte der Wirt, als er hörte, dass das Paar aus Finnland stammte. Mannerheim war rank und schlank gewesen. Wenn er in Stimmung gekommen war, hatte ihn häufig der Ehrgeiz gepackt, seine Körper kräfte zu zeigen. Dann war er hochgesprungen, hatte sich an den obersten Deckenbalken des »Affelkammer« gehängt, und, damit nicht genug, er hatte sich auch noch durch den knappen halben Meter zwischen Balken und Decke gezwängt und war auf der anderen Seite wieder hinuntergesprungen. Das war ein Kunststück, das kaum einem Schweizer gelang, ihre Kräfte reichten nicht, und der Bauch blieb zwischen Balken und Decke stecken.
Der Oberst trank ein paar Krüge Feldschlösschen, ein ausgezeichnetes Schweizer Bier. Davon beflügelt, be schloss er, seine eigenen Künste am Mannerheim-Balken zu erproben. Es war ein wirklich harter Test. In
seiner steifen Uniform musste der Oberst alles aufbie ten, um den Mannerheim-Überschlag in Ehren durchzu stehen. Zäh, wie er war, schaffte er es. Nachdem er, vom Applaus der Gäste begleitet, wieder an seinen Tisch zurückgekehrt war, verspürte er einen Hauch männli chen Glücks, in das sich eine Spur militärischen Stolzes mischte. Der Wirt spendierte ihm für die Heldentat einen Krug Bier auf Rechnung des Hauses.
Um sieben Uhr abends waren die Selbstmörder wieder versammelt. Sie überlegten, wo sie übernachten sollten. Da weit und breit alle Hotels und Gasthäuser von den Kartoffelbauern belegt waren, kam man auf die Idee, das Zelt im Platzpromenade-Park aufzuschlagen. Dort bilde ten die Flüsse Limmat und Sihl eine Halbinsel, die direkt im Stadtzentrum, nördlich des Bahnhofes und des Nationalmuseums, lag. Der Oberst erkundigte sich bei einem Passpolizisten nach der Legalität des Unter fangens. Der Polizist
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