Der Wunsch des Re
zum Verfüllen der Pylone verwendet hatten. Die Wandflächen erstrahlten in reinem Weiß, während die Malereien farbig abgesetzt waren. An den schnurgeraden Fahnenmasten, die sich an die Pylonmauern schmiegten, wehten bunte Wimpel im Wind. Gewaltige Statuen von Ramses II. flankierten die hölzernen Tore und schauten seit gut einhundert Jahren die Ewigkeit. Es gab noch keine umlaufenden Kolonaden, die den Vorhof zierten. Eigentlich war es mehr ein Vorplatz, auf dem sich ein Obeliskenpaar sowie die kleinen Tempel von Sethos II. und Ramses III. befanden.
Sie wandte den Blick in die entgegengesetzte Richtung und schaute über das beeindruckende Panorama des westlichen Theben. Vor ihr lag der Prozessionsweg, der beiderseits von widderköpfigen Sphingen gesäumt wurde. Er zog sich in dieser Epoche noch bis hoch zum Tempeleingang, hinter dem sich der majestätische Säulensaal verbarg. Dann folgte der Hafen, an den sich der Nil anschloss. In der Ferne erblickte sie schließlich den schmalen grünen Streifen des fruchtbaren Landes und die zerklüfteten Felsen, hinter denen sich irgendwo das Begräbnistal der Pharaonen verbarg.
Sie sah wieder zum Tempel von Ramses III., und erneut begann ihr linker Arm zu jucken, auf dem sie das heilige Zeichen trug.
Ihr Blick glitt weiter, kehrte aber kurze Zeit später zum Torbau des Ramses-Heiligtums zurück. Wie gebannt starrte sie auf die hölzernen Gerüste und kratzte sich geistesabwesend den Oberarm. Irgendwann zwang sie sich regelrecht, den Blick abzuwenden, aber es war, als würde er magisch angezogen.
Du kannst auch nur noch an deine Arbeit denken!, schalt sie sich und riss ihre Augen gewaltsam von dem Eingangstor los.
Einigen Würdenträgern schien bereits aufgefallen zu sein, dass ihr Interesse mehr den Pylonen als dem Pharao galt. Tadelnd sahen sie sie an.
Verlegen senkte Meritusir ihren Kopf und starrte auf ihre Fußspitzen, die in wunderschönen, reich verzierten Ledersandalen steckten. Dabei strich sie mit den Händen über ihren leicht gewölbten Bauch. Als sie wieder zum königlichen Sitzmöbel schaute, traf sich ihr Blick mit dem von Ramses. Seinem Gesicht war keine Gefühlsregung zu entnehmen.
In diesem Moment trat der Erste Prophet des Amun-Re vor den Pharao, und Ramses wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu.
Nesamun verneigte sich tief. »Sei gegrüßt, o Mächtiger Horus. Der Große Gott Amun-Re freut sich, dich begrüßen zu dürfen.« Mit einer unterwürfigen Geste forderte er Ramses auf, ihm zu folgen.
Gemeinsam schritten die beiden Männer in Begleitung des zweiten und dritten Amun-Propheten auf den Eingangspylon des Heiligtums von Osiris Ramses III. zu.
Meritusirs linker Oberarm begann erneut zu jucken, während ihr Blick wie von selbst über das Baugerüst schweifte. Plötzlich bemerkte sie ein Seil, das genau im Durchgang hing und dem König und seinem Gefolge im Weg sein würde. Sie sah an dem Seil hoch, und sie erstarrte. Es endete an einem Holztrog, in dem sich die Maurer und Verputzer ihren Mörtel anrührten. Der Priesterin gefror das Blut in den Adern. Das Jucken und Brennen in ihrem Arm wurde immer unerträglicher. Der Trog stand ziemlich wackelig am Rand der Gerüstlauffläche. Würde jemand das Seil zur Seite ziehen, würde der Trog unweigerlich herabstürzen.
Verstört blickte sie zu Ramses und seinem Gefolge. Die vier Männer waren nur noch wenige Schritte vom Durchgang entfernt. Nesamun, der neben dem Herrn der Beiden Länder schritt, hatte das Seil nun ebenfalls bemerkt, eilte vor und griff danach.
»
Nein!
«, schrie Meritusir und stürzte aus der Menge der Würdenträger quer über den Tempelvorhof auf den Pharao zu.
Überrascht drehten sich die Propheten und der König zu ihr um. Nesamun zögerte einen kurzen Moment; dann griff er nach dem Seil und zog es zur Seite.
Meritusir schnellte mit einen Satz auf Ramses zu und sprang ihm förmlich seitlich an, sodass er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinstürzte. Dabei riss er den neben ihm stehenden Zweiten und Dritten Propheten mit, die sich abfangen konnten und nicht fielen. Meritusir war so überraschend flink auf den Pharao zugestürmt, dass selbst die Getreuen nicht reagiert hatten und nur verblüfft die Szene beobachteten.
Entsetzt hatten die Anwesenden dem Schauspiel beigewohnt, als im selben Moment der hölzerne Trog herunterstürzte und mit einem mächtigen Knall zerbarst. Größere und kleine Steine verstreuten sich über den Vorplatz. Die Frauen schrien entsetzt auf,
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