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Der Wunsch des Re

Der Wunsch des Re

Titel: Der Wunsch des Re Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Dietrich
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auch weiterhin mit einem weiten Hemd und einem Lendentuch bekleidet herumzulaufen.
    Als ein älterer Priester erschien, erhoben sich die Wabs, um ihn mit einer Verneigung zu begrüßen. Dann setzten sie sich wieder, und der Unterricht begann.
    Der Stoff, der gelehrt wurde, war umfangreich, wie Meritusir in der Folgezeit feststellen konnte. Es ging um die Festsetzung von Steuerabgaben, die anhand der Höhe der Überschwemmung berechnet wurden. Sie lernte, wie in den Werkstätten und Lagerhäusern die Unterlagen über den Warenbestand geführt wurden, oder wie sie es anstellen musste, um die nötige Proviantmenge für die Soldaten und Bauarbeiter zu berechnen, damit niemand Hunger litt. Und immer wieder musste sie langweilige Verwaltungstexte und Musterbriefe kopieren.
    Es gab aber auch Bereiche, in denen sie ihren Mitschülern weit überlegen war. Einer davon war der Umgang mit Zahlen.
    Da die Kemiter keine Nachkommastellen kannten und höchstens mit Brüchen rechneten und das ziemlich umständlich, musste sie sich alle Mühe geben, um nicht mit ihren Fähigkeiten aufzufallen. Und so passte sie sich der Rechengeschwindigkeit ihrer Mitschüler an, indem sie völlig vertieft über ihrer mit einer weichen Stuckschicht überzogenen Schreibtafel saß oder grübelnd den Blick durch den Hof schweifen ließ. Sie gebrauchte sogar ihre Finger beim Rechnen und schrieb erst das Ergebnis der zu lösenden Aufgabe nieder, wenn der Großteil der anderen bereits fertig war. Um dennoch nicht als Beste dazustehen, ließ sie ihre Berechnung gelegentlich falsch ausfallen, was ihr das hämische Grinsen einiger Wab-Priester einbrachte. Trotzdem rang ihre Arbeit dem für Mathematik und Geometrie zuständigen Priester einige Bewunderung ab, sodass er Amunhotep ansprach, als sich beide im Lebenshaus über den Weg liefen.
    »Ich war zwar anfangs etwas skeptisch, eine Frau zu unterrichten. Ich muss aber gestehen, dass Meritusir in dem Land, aus dem sie kommt, in einer hervorragenden Schule gewesen sein muss.« Fragend hatte Amunhotep die Augenbrauen in die Höhe gezogen, und so fügte der Priester erklärend hinzu: »Meritusir ist beinahe genauso gut wie die meisten ihrer männlichen Kameraden. Gestern war sie sogar die Zweite, die das Volumen eines Pylons richtig errechnet hat.« Anerkennung schwang in der Stimme des älteren Mannes, als er das dem Hohepriester mitteilte.
    Amunhotep amüsierte sich im Stillen. Für ihn stand fest, dass sich Meritusir einen Ulk daraus zu machen schien, mit den unwissenden Priestern zu spielen. Solange sie jedoch den Unterricht nicht störte oder es übertrieb, war es ihm egal.
    »Das freut mich zu hören«, erwiderte er, und beide Männer gingen ihrer Wege.
    Am Abend stellte er Meritusir dennoch zur Rede.
    »Wie ich höre, bist du recht gut im Rechenunterricht.«
    »Ja«, erwiderte sie und überlegte, worauf er hinauswollte.
    »Mir ist bewusst, dass du sicher ein ums andere Mal etwas unterfordert bist, aber ich habe nicht die Zeit, um dich persönlich zu unterrichten. Auch keiner der anderen Priester kann es tun. Also rate ich dir, dem Unterricht aufmerksam zu folgen, und treibe es mit deinen Streichen nicht zu weit.«
    Beleidigt zog Meritusir ein Gesicht.
    War sie anfangs noch voller Lerneifer zum täglichen Unterricht erschienen, so wurden ihr nach knapp einem Monat die Stunden quälend lang, in denen Mathematik und Geometrie auf dem Lehrplan standen. Sie hatte insgeheim gehofft, sofort in das streng gehütete Wissen der Priester eingeweiht zu werden, doch anscheinend hatte sie sich gründlich getäuscht.
    »Ich versuche ja, dem Unterricht zu folgen«, rechtfertigte sie ihr Verhalten. »Es fällt mir auch nicht schwer. Das, was momentan aber gelehrt wird, kann ich im Schlaf. Es kommt überhaupt nichts Neues mehr hinzu. Und deshalb bitte ich darum, fortan dem Rechenunterricht fernbleiben zu dürfen.«
    »Glaubst du wirklich, dass du alles kannst?«
    »Aber sicher doch!«, kam ihre überhebliche Antwort. Herausfordernd sah sie Amunhotep an, der enttäuscht den Kopf schüttelte.
    »Ich habe dich für besonnener gehalten. Du hast noch sehr viel zu lernen.« Mit diesen Worten wandte er sich zum Gehen.
    »Ich möchte lernen«, rief sie ihm aufmüpfig hinterher, »aber etwas, was ich noch nicht kann und weiß. Ich möchte die alten Schriften lesen, die in der Bibliothek des Lebenshauses gehütet werden, oder jene, die in der Halle des Wissens archiviert sind. Das ist es, wovon ich schon immer geträumt

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