Der Wunschzettel - Be Careful What You Wish For
an Julia erinnerst …«
»Mum?«, frage ich leise.
»Ich weiß, dass es gemein ist«, gesteht sie, »auf die Tochter meines Mannes eifersüchtig zu sein, nur weil sie wie ihre Mutter aussieht, und sich bedroht zu fühlen, weil sie mich ständig an seine erste Frau erinnert …« Ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie zu mir aufsieht. Ihr Gesicht ist kreidebleich und verzerrt. »Ich bin ein schlechter Mensch.«
Ich habe mir nie überlegt, wie sich die Situation aus ihrer Perspektive darstellt, doch nun wird mir schlagartig klar, wie schwierig das Ganze für sie gewesen sein muss. Instinktiv strecke ich die Hand aus und drücke ihre Finger, und mir wird bewusst, dass dies das erste Mal ist, dass ich sie liebevoll berührt habe. »Du bist ein guter Mensch, Rosemary, ein wirklich guter«, beruhige ich sie. Und das sage ich nicht nur, sondern meine es auch so. Denn das ist sie wirklich. Ich habe es all die Jahre nur nicht bemerkt.
»Wirklich?« Eine Träne kullert über ihre Wange und fällt in ihren Kaffee.
»Tja, entweder das, oder wir sind beide schlechte Menschen«, gebe ich achselzuckend zurück, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet.
»Ich habe nie versucht, Julia zu ersetzen«, erklärt sie leise.
»Das weiß ich.« Ich nicke und frage mich, warum wir dieses Gespräch nicht schon vor langer Zeit geführt haben.
»Das konnte ich nicht und wollte es auch gar nicht. Genauso wenig wie Lionel Lawrence, meinen ersten Mann, nie ersetzen konnte.« Sie sieht mich an, und zum ersten Mal erkenne ich echte Angst in ihren Augen. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, noch einmal jemanden zu verlieren, der mir so am Herzen liegt. Ich liebe deinen Vater so sehr, Heather. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn tun würde.« Ihre Stimme bebt. Sie senkt den Kopf und bricht in Tränen aus.
Nun ist es an mir, stark zu sein, sage ich mir, denn obwohl mir derselbe Gedanke nicht aus dem Sinn gehen will, weiß ich, dass Lionel nicht wollen würde, dass wir wegen ihm weinen. Wäre er jetzt hier, würde er uns in die Arme schließen und dafür sorgen, dass wir uns augenblicklich besser fühlen. Aber er kann jetzt nicht hier sein, also ist es meine Aufgabe.
Ich drücke Rosemary an mich - denn das ist es, was mein Dad wollen würde. Und ich will es auch.
Es ist eine lange Nacht. Rosemary döst irgendwann ein, aber ich finde keinen Schlaf, sondern sitze da, trinke Kaffee und blättere in alten Zeitschriften.
Nach ein paar Stunden stehe ich auf und gehe nach draußen, um mir die Beine zu vertreten. Es ist immer noch warm, außerdem herrscht eine Stille, wie man sie in London nicht findet. Eine Ruhe, die einen glauben lässt, alles liege im Tiefschlaf und man selbst sei der einzige Mensch auf der Welt, der wach ist. Auf dem Parkplatz sehe ich ein paar Gestalten, die beisammenstehen und rauchen. Es sind Krankenschwestern, und einen Moment lang zögere ich. Eigentlich sollte ich unter diesen Umständen nicht einmal im Traum daran denken, trotzdem gehe ich zu ihnen hinüber. »Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?«
Sie unterbrechen ihre Unterhaltung, und eine der Schwestern sieht mich mitfühlend an. Ich habe mich eine Weile nicht mehr im Spiegel gesehen, aber ich sehe garantiert so aus, wie ich mich fühle. »Ich sollte eigentlich nicht …« Sie hält inne und bietet mir eine Silk Cut Ultra Low an. »Erzählen Sie’s einfach niemandem.«
»Das werde ich nicht, versprochen.« Mit einem dankbaren Lächeln lasse ich mir Feuer geben und gehe zu der Stelle, wo der Parkplatz an die offenen Felder grenzt. Ich ziehe an der Zigarette und schaue in den Himmel. Der Vollmond schimmert milchig weiß über mir. Ich sehe ihn an und frage mich unwillkürlich, ob Gabe ihn wohl ebenfalls gerade sieht. In Edinburgh. Ich seufze tief. Ich würde ihn so gern anrufen und ihm erzählen, was mit meinem Vater passiert ist.
Aber ich kann nicht.
Die Traurigkeit schmerzt in meinem Inneren. Ich lasse die halb gerauchte Zigarette auf den Boden fallen und trete sie aus. Sie hat ohnehin widerlich geschmeckt.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich draußen war - mittlerweile habe ich jedes Zeitgefühl verloren -, doch als ich zurückkomme, döst Rosemary noch immer. Sie hat sich quer auf die Plastikstühle gelegt und benutzt ihre Handtasche als Kopfkissen. Ich breite ihre Jacke als Ersatz für eine Decke über sie. Auch ich bin inzwischen müde. Ich setze mich auf den letzten freien Stuhl neben ihr, lehne den Kopf gegen
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