Der Wunschzettelzauber
die in ihrer Erinnerung noch immer fortbestand und in die sie auch jetzt noch, wenn sie nachts alleine im Bett lag, in vielen ihrer Träume zurückkehrte.
Wenn ihr Blick im Bon Vivant über die sachkundig getroffene Auswahl von Weinen schweifte, musste sie an das kleine Dorf im Burgund denken, in dem Antoines Eltern in einem wunderschönen alten Bauernhaus lebten, inmitten von üppig grünen Weinhängen. Jeannette und André Regard hatten ihr angeboten, sie bei sich aufzunehmen, als sie damals so verzweifelt und hilflos war. Es war eine groÃe Versuchung gewesen, das Angebot anzunehmen, aber dann hatte sie doch mehr Sehnsucht nach ihren eigenen Eltern empfunden. Die Vorstellung, das Baby ohne Antoine in Frankreich zu bekommen, hatte ihr Angst gemacht.
Also hatten Chloes Eltern sie nach dem entsetzlichen Albtraum von Antoines Beerdigung wieder nach England mitgenommen. Chloe hatte sich in den Armen ihrer Mutter verkrochen und nicht aufgehört zu weinen. Die Kostümjacke, die sie trug, war bereits nicht mehr zugegangen, weil ihr Bauch schon deutlich hervortrat. Ihr Vater hatte den Wagen schweigend und mit bleichem Gesicht die gesamte Strecke heimwärts im Zeitlupentempo gefahren, um seine kostbare Fracht behutsam nach Hause zu bringen.
Hätte sie das Angebot von Antoines Eltern damals angenommen, dann würden sie und Nicolas heute sehr wahrscheinlich in ihrem eigenen wunderschönen, alten Landhaus im sonnigen Burgund leben. Nicolas würde als kleiner Franzose groà werden, genau wie sein Vater dort aufgewachsen war.
Nun ja, wenn ⦠wäre ⦠, dachte Chloe gelassen und blickte durch das Ladenfenster hinaus auf das vertraute Stadtbild: Die farbenfrohen Stände an der Rosemary Street hoben sich fröhlich von dem grauen Spätherbsthimmel ab, der sich düster über London ausbreitete. Direkt vor dem Laden drauÃen wurden köstliche reife Früchte und Gemüse in riesigen Körben zum Verkauf angeboten, und am benachbarten Stand wurden Nüsse und Gewürze aus groÃen Leinensäcken herausgeschaufelt. Daneben befand sich der gröÃte Stand der StraÃe, geführt von dem schweigsamen Bobby, mit seinem surrealen, seltsam faszinierenden Durcheinander von Schuhbändern, Kosmetikartikeln und Batterien. Dann kam der kleine, aber äuÃerst beliebte Thai-Curry-Imbiss-Stand, wo ständig drei groÃe Töpfe mit verlockend duftenden Eintopfgerichten in der frostigen Luft dampften. Und dahinter schlieÃlich Carols Blumenstand, der mit seinem Meer von Blüten und Knospen das Bild eines winzigen Garten Edens bot.
Chloe liebte diesen versteckten Winkel im südlichen London, und das nicht nur, weil sie hier aufgewachsen war. Sie war glücklich darüber, jetzt hier als Mutter mit ihrem Sohn zu leben, denn es war eine freundliche Umgebung, friedlich wie in einem Dorf. In diesem Viertel mit seinen Häusern im georgianischen Stil gab es elegante kleine Plätze und versteckte, üppig wuchernde Gärten. Alles, was Chloe brauchte, war dort vereint: ihr eigenes kleines Häuschen, das fröhliche, betriebsame Summen der Rosemary Street und, im Herzen des Viertels, der Mittelpunkt ihres täglichen Lebens, das Bon Vivant .
Plötzlich drang ein gallisches Brüllen an ihr Ohr, das so klang wie: » Hé-oh! Chloé? «
»Hmmm ⦠ja?«, antwortete Chloe. Bruno Balsan, Besitzer des Delikatessenladens und ihr Chef, stand neben ihr.
»Na, werden wir uns einig? Willst du misch âeiraten?«, fragte Bruno mit dem kehligen französischen Akzent, der sich auch nach unzähligen Jahren in London nicht verloren hatte. Groà und breitschultrig, ebenfalls in ein bretonisches Fischerhemd und Jeans gekleidet, sah der über fünfzig Jahre alte Bruno wie immer leicht geschafft aus. Bei seinem durchfurchten Gesicht musste Chloe unwillkürlich an ein verwittertes altes Haus denken.
»Also, ich weià nicht. Allmählich kann ich mich mit dem Gedanken anfreunden«, erwiderte sie und grinste ihn an. »Frag mich morgen noch mal.«
»Das mach isch.«
Sie tauschten schon zwei Jahre lang Varianten dieses Dauerwitzes aus. Für Bruno waren Essen, Wein und Frauen das Wichtigste im Leben â ohne bestimmte Reihenfolge â, und er war der Meinung, dass ein bisschen Schäkern nicht verkehrt sein konnte. Mittlerweile empfand Chloe dieses fröhliche kleine Ritual sogar als ebenso tröstlich wie den
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