Der Wunschzettelzauber
später arbeitete Chloe noch immer im Bon Vivant . Bruno war ihr mit der Zeit ein guter Freund und für Nicolas so etwas wie ein Onkel geworden. Und weil er wusste, wie viel Chloe daran lag, das französische Erbe ihres Sohnes zu pflegen, sprach er zu ihrer Begeisterung mit dem kleinen Jungen nur Französisch.
Bruno konnte einiges von dem, was Chloe durchgemacht hatte, nachempfinden. Er war schon lange von seiner Frau geschieden, die in Frankreich mit seinem inzwischen erwachsenen Sohn Pascal lebte, und wusste nur zu gut, was eine schmerzhafte Trennung bedeutete. Vater und Sohn hielten zwar einen gewissen Kontakt aufrecht, doch sahen sie sich viel seltener, als Bruno es sich gewünscht hätte, und er litt darunter, dass er den gröÃten Teil von Pascals Kindheit unwiederbringlich verpasst hatte.
Chloe liebte den Laden. Er erstreckte sich tief in das Gebäude hinein, hatte eine relativ niedrige Decke und weià gekalkte Wände, an denen farbenfrohe Vintage-Poster hingen, die für Bahnreisen nach Nizza, Chamonix, Saint Tropez und zum Mont Blanc warben. Den vordersten Teil nahm der Delikatessenladen ein, mit einer Kühltheke, in der hinter Glas köstliche Käsestücke, Pasteten und Aufläufe lockten. Daneben standen mit französischen Lebensmitteln gefüllte Regale und groÃe Körbe voll duftender Brote und leckerer Croissants. Im hinteren Teil befand sich das Café, mit richtigen Bistrostühlen und Tischen, die kirschrot oder hellblau beschichtet waren. Eine klug gewählte Mischung von alten Chansons und aktuellen französischen Popliedern trug das Ihre zu der besonderen französischen Atmosphäre bei. Die Stammkunden des Bon Vivant  â eine bunte Mischung aus Markthändlern, Studenten, Rentnern und Yuppies mit ihren obligatorischen Laptops â hielten sich gern dort auf, und sie waren für Chloe inzwischen fast so etwas wie eine Familie geworden.
Dann waren da die Mütter aus der näheren Umgebung, vor allem Chloes enge Freundinnen Sally, Kaja und Megan, die sie von den kleinen Parks und Spielplätzen her kannte. Chloe hatte dem Bon Vivant einen beträchtlichen Aufschwung beschert, als sie Bruno vorschlug, das Café um eine kleine Kinder-Spielecke mit Spielzeug und Kinderbüchern zu bereichern. Daraufhin hatte sich Brunos tägliche Kundschaft nahezu verdoppelt. Nun ja, die Arbeit war manchmal ermüdend, und Chloe war den ganzen Tag lang auf den Beinen, aber sie genoss die unbezahlbare Illusion, in Frankreich zu leben.
Sie genoss es auch, von Menschen und Gesprächslärm umgeben zu sein â in dem kleinen, geschützten Hafen der Rosemary Street spielte sich immer in der einen oder anderen Ecke irgendein menschliches Drama ab. AuÃerdem verhinderte der Kontakt mit anderen Menschen, dass sie sich in ihr Schneckenhaus zurückzog. Dafür blieb ihr an den Abenden, die sie mit Nicolas allein zu Hause verbrachte, immer noch genug Zeit.
Nachdem die schmerzlichen Erinnerungen an Paris allmählich mehr und mehr in den Hintergrund traten, konnte sie wieder mit Freude daran denken, wie wunderschön es im Burgund war und wie glücklich sie darüber war, dass Nicolas ein paar Wochen im Sommer dort bei seinen GroÃeltern in einer komplett französischen Umgebung verbringen konnte.
Aber nun hatte sie für sich und ihren Sohn ein Leben hier in London eingerichtet, und man konnte schlieÃlich nicht an zwei Orten zugleich leben. Heimweh war eine komplizierte Sache, sagte sie sich selbst, während sie fachkundig die Hebel der Espressomaschine bediente.
Sie erinnerte sich daran, wie Philip der kleinen Tallulah (nach einem aufwühlenden Musikstück von Mahler) erklärt hatte, dass Heimweh eine besondere Art von Schmerz sei â das schmerzliche Verlangen, nach Hause zurückzukehren. Wie immer darauf aus, seiner Tochter möglichst noch ein Quäntchen Wissen in den Kopf zu stopfen, hatte Philip den Bogen zur griechischen Mythologie geschlagen. Da hatte es einst einen Mann namens Odysseus gegeben, der jahrelang in der Welt herumgereist war, sich dabei aber voller Heimweh immer danach gesehnt hatte, nach Hause zu seiner Frau Penelope zurückzukehren, so erzählte Philip. Tallulah war allerdings zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich um Mein kleines Pony Gedanken zu machen, und bekam daher kaum etwas mit. Chloe aber hatte jedem Wort Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie auch kein besonderes
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