Der Zauber der Casati
Inhaltsübersicht]
Dritter Teil
Never trust the teller, trust the tale.
D. H. Lawrence
W illst du es dir jetzt ansehen oder nicht? Wir sind ja wohl nicht bis hierher gereist, um vor einem Tor stehenzubleiben.» Ich ärgerte mich, dass ich nicht genauer recherchiert hatte und überhaupt so schlecht organisiert war. Die Adresse hatte ich sogar erst am Morgen unserer Abreise herausbekommen. In Erba angekommen, hielten wir vor einem Straßencafé, um nach dem Weg zu fragen. «Villa Amalia? Sì, sì, prima del semaforo a sinistra e poi a destra, e lo trova.» – «Die Villa Amalia? Ja, ja, vor der Ampel links, dann nach rechts, so kommen Sie hin.» Einmal waren wir daran vorbeigefahren, dann hatten wir kehrtgemacht. Ein großes Gittertor, ein Bauschild, darauf mit schwarzem Filzer «Sprachenschule Villa Amalia». Es sah verrammelt aus. Von der Straße her war nichts zu sehen. Ich schwieg, wusste nicht, was tun. Er streckte die Hand zwischen den Gitterstäben hindurch. Ein einfaches Schloss. Er drückte den Türgriff, das Tor ging auf. «Los, geh!» Auf der Straße war kein Mensch zu sehen – jetzt oder nie. «Mach schnell!» Er zog das Tor hinter uns zu. Wir waren drin.
Der Pfad zum Haus war mit Büschen und Bäumen überwuchert. Ein chaotisches Ensemble, ganz anders, als ich mir den üppigen Park und eine der Kutsche von König Umberto würdige Auffahrt vorgestellt hatte. Bauschutt, mit Planen verhängte Gerüste. Ein Lastenaufzug. Ich orientierte mich an einem Foto aus dem Internet. Ich erkannte nichts wieder. Wir kamen hinters Haus, auf eine Art Hinterhof, der wohl als Platz zwischen den Stallungen gedient hatte. Alles zubetoniert. Farbtöpfe, wild durcheinanderliegendes Bauholz. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Und dann stießen wir auf einen Bauarbeiter. « Es possiblé visitaré la Villa Amalia ?», fragte ich ihn, mehr auf Spanisch denn auf Italienisch, dazu mit französischem Akzent. Der Typ blickte uns finster an und ging seinen Chef holen. Ich war unschlüssig, ob ich wirklich voller Begeisterung schildern sollte, dass ich ein Buch über die Marchesa Casati schrieb, das Ganze in diesem Sprachenmischmasch. «Buongiorno, prego es possiblé visitaré la Villa Amalia? Soy Francese y …» Der Vorarbeiter machte schulterzuckend eine ausholende Armbewegung à la «Machen Sie, was Sie wollen, mir egal». Also gingen wir durch die erstbeste Tür, erstiegen die Stufen eines lichtlosen Treppenhauses. Nach dem Linoleumboden und den Notausgangsschildern zu schließen, hatte ein Teil des Gebäudes bereits als Schule gedient. Ich kam zu spät, das hier war ein seelenloses Verwaltungsgebäude. Ich rang um Fassung.
Im ersten Stock ein langer Korridor und eine Reihe von Türen, jede zu einem gleich großen Raum. Eine verlassene Schule mitten in der Ferienzeit. Klassenzimmer, Tische und Stühle, über der Tafel das Kruzifix. An die Wand gepinnte Sicherheitshinweise als einziger Schmuck. Nur wenig Licht sickerte durch die geschlossenen Läden. Am Ende des Flurs braun geflieste Toiletten. Verzweifelt versuchte ich, den Geist des Ortes zu atmen, zu spüren, was er vermittelte, mir vorzustellen, wozu die Räume einst gedient hatten. «Ist dir klar, dass hier mal irgendwo ihr Zimmer gewesen ist?» Er ging vor mir. Ich wollte gerührt sein, wollte etwas spüren. Wenn ich mich konzentrierte, musste ich doch herausfinden, welcher dieser anonymen, uniformen Klassenräume einst das Zimmer der kleinen Luisa gewesen war. Und da auf einmal sah ich sie. Ein paar Meter hinter mir. Im engen schwarzen Etuikleid, so ging sie einher, Schleier umwehten sie einem Nebel gleich. Ein stummer Schrei kam aus meinem Hals. Mein Mitreisender war am Ende des Flurs verschwunden, ich war mit ihr allein. Die alte Frau wehte näher. Ich hatte es so gern glauben wollen, und jetzt servierte meine Phantasie sie mir auf dem Silbertablett. Ganz genau sah ich die weiße, krallenartige Hand, so real war die Erscheinung. Ich glaube nicht an Gespenster, Geister, Wiedergänger, aber ich glaube an die Macht der Vorstellungskraft. Ihre Augen hatten einen so furchterregenden Glanz, und zugleich nahm ich bei ihr eine Art Freude wahr. Sie wollte mich führen, mir ihr Zimmer zeigen, das, wo sie sich die Haare abgeschnitten hatte. Ich rief mein Gehirn zur Ordnung. Eine Halluzination, nichts als eine Halluzination! Kusch! Kusch! Weg damit! Ich ging schneller. Sie kam immer näher. Als wir an einem der leeren Räume vorbeikamen, redete ich hastig auf sie ein: «Ja, hier
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