Der Zauber der Casati
ist es, hier war es. Lass mich jetzt in Ruhe, du machst mir Angst.» Und ich lief weg. Wahrscheinlich habe ich sie enttäuscht.
Ich rannte die Treppe hinab, immer vier Stufen auf einmal nehmend. Unten fand ich ihn in einem kleinen Vestibül, dessen Boden blau gefliest war, mit von den Jahren und unzähligen Füßen abgetretenem Dekor, das mich in die Realität zurückholte. Diese Schnörkel waren alt. Es gab also Reste von damals!
«Schau mal!» Er deutete nach oben. Allerlei Stuckornamente und Blumengirlanden in verblasstem Rosa zierten die Decke. Dann drehte er einen Türknauf, und auf einmal standen wir in meiner Villa Amalia. Ein großer Saal mit Schnitzwerk, Marmorsäulen, einem Fresko mit Cherubinen und Landschaften à la Watteau, einem spinnwebenverhangenen, nackten schmiedeeisernen Leuchter, einem Kamin in gotisch-rokokohaftem Stil. Ich stand sprachlos da. Wir gingen in den nächsten Raum. Die überfrachteten Stuckornamente mit ineinander verschlungenen Früchten und Kürbissen legten nahe, dass dies das frühere Speisezimmer war. Ein mit künstlichen Weintrauben behängter Kronleuchter in der Mitte des Raumes reichte weit herunter. Seine ovale Form deutete auf den Ort, an dem ein Tisch gestanden haben musste mit Platz für gut sechzehn Esser. Langsam gewöhnten unsere Augen sich an die Dunkelheit. Wir verhielten uns wie Kinder, die einen Schatz entdeckt haben, riefen «Oh!» und «Hast du das gesehen!». Ich zitterte vor Freude. Das war meine Villa Amalia, wenn auch heruntergekommen, mit fast verblichenen Malereien, und doch noch ungleich prächtiger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Wir öffneten ein Fenster, stießen die Läden auf, Licht strömte herein. Schon erklomm mein Begleiter das Fensterbrett. «Komm mal!» Da war es, alles, was ich von dem Foto kannte, das große strohgelbe Gebäude, die königlichen Säulenreihen, die Freitreppe mit den breiten Stufen. Ungebändigtes Gras hatte den Park erobert, aber da erhob sich der Brunnen mit dem verwitterten Engel, voll schlechtem Geschmack und Poesie. Wir wanderten von Raum zu Raum. Manche Türen waren zugesperrt, doch hinter denen, die sich öffnen ließen, entdeckten wir Schätze, ganze Welten. Ich erinnere mich an das breite rote Samtband, das den gewaltigen Lüster im Salon hielt. Ich wollte alles behalten, alles notieren, alles in meinem kleinen Kopf bewahren und nichts vergessen, das Schachbrettmuster der Böden, die Täfelungen mit geschnitzten Figuren, das gelb-blaue Fenster im Wappensaal, und vor allem die Tristesse. Nicht, weil es ein verlassenes Haus war, nicht, weil der Putz von den Wänden platzte, sondern weil es eine kalte, pompöse Bruchbude war und meine Luisa hier gelitten hatte. Ich stellte mir vor, wie sie und ihre Schwester mit dem Haushofmeister allein in dem gewaltigen Speisezimmer aßen, wie sie die endlose Flucht der Zimmer durchwanderten, in denen seit dem Tod der Eltern kein Möbelstück verrückt worden war. Eine eiskalte, stumpfe Einsamkeit. Kein Wunder, dass Luisa ihr restliches Leben lang ihre Palazzi mit Gästen bevölkern und jede Menge Feste veranstalten wollte, um die schaurige Leere der Gesellschaftsräume hier in der Villa Amalia im Nachhinein zu füllen. Kein Wunder, dass sie überall, wo sie leben sollte, die Räume rein weiß strich. Wie sehr sie Angst gehabt haben musste vor den Figuren an den Decken, die mit dem Finger auf sie deuteten, mit ihren roten Wangen und dem erstarrten Lächeln. Und dann ihr Zimmer, verloren an einem Flur gelegen, von dem aus zwanzig Türen nebeneinander in Zimmer mit unbenutzten Betten gingen. Kein Wunder, dass sie Hotels liebte. Das Gespenst der alten, verschleierten Frau war verschwunden. Die kleine Ginetta mit der Ponyfrisur des braven Mädchens in der Mitte eines maßlos großen, menschenleeren Salons betrachtete mit mir die fröhlichen Cherubine, die sich in den falschen rosa und hellblauen Wolken tummelten. Sie nahm meine Hand.
Z ur Zeit unserer Begegnung bewohnte sie eine Suite in einem Hotel an der Place Vendôme.» 1922 suchte Luisa einen bis dahin noch unbekannten jungen Fotografen namens Man Ray auf. In seiner Autobiographie schildert der Amerikaner die Entstehungsgeschichte jenes Fotos, das zum berühmtesten Porträt der vielporträtierten Marchesa Casati werden sollte. «Eine eindrucksvolle, große Frau in Schwarz, mit riesigen, durch schwarzes Make-up noch hervorgehobenen Augen. Sie trug einen hohen Kopfputz aus schwarzen Spitzen und neigte beim Eintreten leicht den
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