Der Zauber der Casati
alles selbst erlebt. Sie meint noch die Musik zu hören. Doch der Gesang der Mandolinen und die schluchzenden Geigen sind schon lange verstummt. Durch die Stille der Nacht schwankt die göttliche Marchesa Casati nach Hause.
[zur Inhaltsübersicht]
Epilog
D ie Marchesa Casati starb am 1. Juni 1957 in ihrer Wohnung an einer Gehirnblutung. Age cannot wither her. Sie war sechsundsiebzig Jahre alt. Ein wohlmeinender Freund setzte ihr ein Paar frischer künstlicher Wimpern auf und tat ihr einen ihrer kleinen ausgestopften Hunde in den Sarg. Age cannot wither her nor custom stale her infinite variety. «Das Alter kann nicht welk sie machen, noch die Gewöhnung ihre unendliche Vielfalt schal.» Auf der Old Brompton Road zieht sich mir das Herz zusammen. Ich habe mein Buch beendet und bin hergekommen, um einen Epilog zu schreiben. In dieser Straße habe ich fast drei Jahre lang gewohnt. Ich wusste gar nicht mehr, dass sie an einem Friedhof endet. Age cannot wither her. Ich sehe mich vor mir, wie ich die Straßen von South Kensington durchstreifte auf der Suche nach einem Liebesnest. Die Makler schickten mich zu den letzten Löchern. Er rief mich unterdessen an: «Gehen Sie da und da hin, da gibt es vielleicht etwas!» – «Kaufen Sie die und die Zeitung, die Anzeigen sind klasse!» Wir waren glücklich, wir wollten zusammenziehen, und wir würden uns bis an unser Lebensende siezen. Meine Scheidung lief, schon war ich in einen anderen verliebt. Bei der Besichtigung der Wohnung in der Old Brompton Road war es Liebe auf den ersten Blick. Ich wusste, die war für uns perfekt. Es galt sich rasch zu entscheiden. Er sagte: «Ich vertraue Ihnen voll und ganz», und schickte ein Fax mit seinen Kontodaten. Ich hüpfte vor Freude am Busstop auf der Stelle. Auf demselben Bürgersteig zieht sich mir heute das Herz zusammen. Der junge Mann, mit dem ich in der Old Brompton Road lebte, ist diesen Sommer gestorben. Ein Freund hat es mir erzählt, der hatte es auf Facebook gesehen.
Als ich aus der U-Bahn kam, überlegte ich, wie ich wohl vermeiden könnte, unter den Fenstern meiner Erinnerung entlanggehen zu müssen. Du wirst dem nicht entgehen. Ich will das Grab der Marchesa Casati besuchen, die ein Jahr lang all meine Gedanken beherrscht hat. Die arme Marchesa, ganz zum Schluss haben sie ihr die Schau gestohlen. Ich gehe bei den französischen Buchhändlern vorbei, die immer so nett zu mir gewesen waren. «Du kannst es gar nicht verfehlen, du gehst an deiner alten Wohnung vorbei, einfach geradeaus, dann kommst du direkt darauf zu.» Ich gehe weiter. Ich reiße mich zusammen. Ich gehe weiter, als ob nichts wäre, als hätten wir nicht im Couscous Daran zusammen gegessen, als hätte ich nicht in der Drogerie ein Stück weiter unten Draht gekauft, als würde ich nicht jedes Geschäft kennen und jedes Café, als könnte eine Erinnerung unverfänglich sein. Ich hatte im Wohnzimmer eine Wand rot gestrichen und im Flur lustige Schmetterlinge hingemalt, hatte im Internet schwarze Samtsofas bestellt. Er hatte Borde für meine Bücher befestigt. Ich sehe ihn noch, den Bohrer in der Hand. So stolz auf sich selbst. Die Terrasse war erst nichts als ein Haufen Säcke mit Kies. Wir kauften eine Kletterrose und magere Kürbisse. Unsere Feste. Das Feuerwerk, das wir auf den Dächern der Nachbarhäuser abbrannten, um unsere Freunde zu erfreuen. Ich hatte am Rand von London einen indischen Großhändler aufgetan. Der alte Herr hatte gesagt: «Sie sollten aber nicht mit Feuerwerkskörpern U-Bahn fahren …» Was haben wir gelacht. Ich bin nichts mehr als ein Gefäß voller unerträglicher Erinnerungen an Reisen und an Liebe, an Schreie und Tränen. Wie er mich auf Knien anflehte, ihn nicht zu verlassen. «Mir ist es jetzt klar, mir ist jetzt klar, was es bedeuten würde, Sie zu verlieren, verlassen Sie mich nicht, Camille, verlassen Sie mich nicht!», und ich gab nach, um leichter gehen zu können. Mein Aufbruch, der große Umzug. Die Bücherkisten, die leeren Regalbretter. Er hatte ganz auf tapfer gemacht, eine Flasche Champagner geköpft und auf unsere gute Trennung getrunken. Meine Mutter fand das große Klasse, ich fand es pathetisch.
Ich ging über die Straße, ich erreichte die Höhe der Fenster und wandte den Blick. Da war die Deckenlampe in der Küche, die ich selbst gebastelt hatte, und ich versuchte, die Rose auf der Terrasse zu erspähen, ob die wohl gut gewachsen war. Da wurde mir übel. Rasch ging ich weiter, das Blut pochte mir in den
Weitere Kostenlose Bücher