Der Zauber der Casati
von alten Zeitschriften findet oder buntes Geschenkpapier, dann schleppt sie die Beute in ihren alten Armen nach Hause. Als Kleber verrührt sie in einer angeschlagenen Tasse ein wenig Mehl mit Wasser. Sie hatte schon immer eine Begabung fürs Kombinieren. Einst spielte sie mit Gold und Perlen, mit Seide und Federn, Marmorfliesen und Renaissancemöbeln, Bildern und Tapisserien. Heute bannt sie mit klebrigem Pinsel eine Miniaturwelt aufs Papier, aber ihre Phantasie ist nicht versiegt, ihre Umgebung ist immer noch genauso originell und bunt wie einst. Die alte Marchesa ist einsam, langweilt sich aber nie. Sie ist den größten Malern ihrer Zeit begegnet; von den eigenen Collagen hat sie keine allzu hohe Meinung, sie weiß, dass sie nichts tut, als Dinge zusammenzukleben, die andere, Begabtere, gemalt oder fotografiert haben. Dennoch geht sie methodisch vor, sorgfältig, stundenlang füllt sie ihre Alben und Hefte. Kees van Dongen hätte erstaunt gesehen, wie gut sie mit wenig zurechtkam. «Du bist immer reich gewesen.» Die alte Frau lächelt. Es ist eine freudvolle Beschäftigung, bei der der Geist schweifen kann. Und sie vertreibt ihr die Zeit, genauso wie ihre Listen.
Die Listen der alten Frau sind nicht für die Zukunft, sie halten nicht fest, welche Erledigungen zu machen, welche Bücher zu lesen und welche Gelddinge zu beachten wären. Die Listen der Marchesa Casati handeln von der Vergangenheit, sie sind ein Inventar ihres Lebens, nach Abteilungen und Themen geordnet. Die Berühmtheiten, mit denen sie Umgang hatte, die Maler, die sie gemalt, die Leute, die ihr weh getan haben. Doch mal ist ein dort genannter Maler unbekannt, mal gibt es keine Spur von dem Bild, oder aber sie notiert Tranquillo Cremona als einen ihrer Porträtisten, dabei war der schon tot, als sie zur Welt kam. Diese Listen waren ihrem Eigengebrauch vorbehalten; falls sie mit ihnen jemanden hinters Licht führen wollte, dann sich selbst. Luisa führte auch eine schwarze Liste, wo sie neben den Vornamen ihrer Feinde kleine kabbalistische Zeichen eintrug, auf der Spitze stehende Sterne, Kreuze und so weiter. Jede einsame alte Frau wird am Ende zur Hexe, die die Zukunft voraussagt und unter ihren großen Schleiern Verwünschungen murmelt. Luisa kennt sogar den Zauberspruch, mit dem sie dafür sorgen kann, dass der Pappmaché-Kanarienvogel zu singen anfängt.
E iner nach dem anderen starben ihre Hunde. Sie ließ sie ausstopfen.
Am 13. März 1954 ehrte die Royal Academy of Arts Augustus John mit einer Retrospektive seines Gesamtwerks. Am selben Tag, Tausende von Kilometern von London entfernt, begann die Schlacht von Diên Biên Phu, die letzte Episode des Indochinakrieges. Es ergeben sich immer erstaunliche Bilder, wenn man zeithistorische Ereignisse und Begebenheiten aus einem Privatleben miteinander in Beziehung setzt. Dieses ganze Buch hindurch habe ich versucht, Luisa in ihrer Zeit zu verorten, aber das 20. Jahrhundert ist an ihr abgeglitten wie ein Regentropfen von Wachstuch.
Von allen Künstlern altern Maler am besten. Der Sechsundsiebzigjährige mit seinem weißen Bart war die Eleganz selbst. Mit leicht gebeugtem Rücken neigte er den Kopf und lächelte den Kritikern und Journalisten zu, die seinen unvergleichlichen Strich rühmten, die Wahl der Farben, die Beherrschung der Kontraste, seine aus dem Leben gegriffenen Sujets und seine extravagante Phantasie. Das Porträt der Marchesa Casati – man hatte es aus Ohio beschafft – erzeugte allgemeine Bewunderung. Augustus hatte Luisa benachrichtigt, und sie war bei der Aussicht, wieder vor diesem Bild zu stehen, sehr aufgeregt. Nach der Versteigerung im Palais rose hatte sie gemeint, sie werde keines ihrer Porträts je wiedersehen.
Sie zog ihr ewiges schwarzes Etuikleid an, behängte den faltigen Hals mit einem dicken goldenen Talmi-Collier und setzte sich einen kleinen Hut mit Gesichtsschleier auf, mit dem sie aussah wie eine würdige Witwe. Lange Zeit wäre Luisa einfach so allein zur Vernissage gegangen, hätte sich die Frage nicht einmal gestellt. Aber sie war so lange nicht mehr öffentlich aufgetreten, dass sie ein wenig Angst bekam und einen Nachbarn bat, sie zu begleiten. Sie, die sämtliche Triumphe erlebt hatte, sie, deren öffentliches Erscheinen stets klug choreographiert war, um ganze Salven von Applaus zu bewirken, wusste, dass sie ihre großartige Wirkung verloren hatte. Zwar würde man sie gewiss bemerken und mit dem Finger auf sie zeigen, auf das Modell eines der vielen
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