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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Ganz gleich, ob in einem Gässchen in der Stadt oder an einer Kreuzung von Reitwegen im Wald, sie schrieb, wo sie gerade war, eine Viertelstunde lang in ihr Spiralheft. Und fuhr dann weiter. Seit mehreren Jahren füllte sie auf diese Weise zwei oder drei Seiten am Tag.
    Niemand kannte dieses Geheimnis. Wie hatten die Barbaren es herausfinden können? Anne-Marie suchte sich immer abgelegene Stellen aus. Mit welcher neuartigen Überwachungstechnik hatten sie den einzigen Ort, an dem sie schreiben konnte, aufspüren können?
    Und sie hatte noch eine weitere Sorge. Wenn sie wussten, dass sie im Wagen schrieb, dann wussten sie auch, dass sie überhaupt schrieb, was sie schrieb und unter welchem Namen – und dass sie neben ihrem äußeren Leben noch ein anderes Leben führte. Doch ebendiese Heimlichkeit, das Geheimnis, war die Triebfeder ihrer Inspiration.
    Anne-Marie hatte immer nur für einen Menschen geschrieben, einen einzigen. Und nur über ihn. Eigentlich kam es ihr sogar so vor, als schreibe sie an ihn. Und das in der denkbar einfachsten Weise, ohne Mühe, ohne Disziplin. Die Inspiration und das Bewusstsein ihrer Freude verschmolzen zu einem einzigen, schubweise auftretenden, überwältigenden Erregungszustand. Dann hatte sie nur noch den Wunsch, sich ihm auszuliefern, sich ihm endlich im Schutz ihrer üblichen Zuflucht hinzugeben.
    Doch wenn dieses Geheimnis gelüftet war, dann war alles mit ihm zerstört. Anne-Marie konnte es sich nicht erklären – kann man sich erklären, was einen zum Schreiben bringt? –, aber sie war sicher, dass sie nicht mehr schreiben würde.
    Und das, sollte sie später sagen, habe ihr die Kehle abgeschnürt an diesem Novemberabend in ihrem kleinen Krankenhauszimmer, das nun ebenso dunkel war wie die Nacht draußen.

9
    I ch habe zwar, verglichen mit Van oder Francesca, so gut wie nichts gelesen, aber ich kannte drei Bücher von Le Gall. Im selben Maße, in dem die anderen Komiteemitglieder – außer Ida Messmer, und selbst für sie gilt es ein bisschen – für einen kleinen Leserkreis schrieben, war Le Gall ein Erfolgsautor.
    Im Eröffnungsjahr des Guten Romans hatte er bereits mehr als dreißig Bücher veröffentlicht, eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dass er erst mit über vierzig zu schreiben begann.
    Vorher war er eine Zeit lang Lateinlehrer gewesen, einige Jahre Angestellter des Seewetterdienstes – des Dienstes für Berufsseeleute und für echte Freizeitschiffer, die man daran erkennt, dass sie nie Wörter wie Freizeit und Wassersport in den Mund nehmen – und danach Zeitungskorrektor für verschiedene auflagenschwache Blättchen, deren einzige Gemeinsamkeit eine anarcholibertäre Ausrichtung war. All diese Tätigkeiten hatte Armel aus einem einzigen ebenso entscheidenden wie geheimen Grund ausgeübt: weil sie es ihm ermöglichten, im Land des Galloromanischen zu bleiben.
    Eine lokale Legende von Schiffbrüchigen, getrennten Liebenden und einer versunkenen Stadt hatte als Grundlage für seinen ersten Roman gedient. Er hätte nicht sagen können, woher er die Geschichte hatte – und er hätte protestiert, wenn man ihn als deren Autor bezeichnet hätte, was jedoch die Wahrheit war, wenn das Wort »Autor« überhaupt etwas zu sagen hat. Der erste Roman war jedenfalls gleich ein Erfolg.
    Armel hatte in derselben Richtung weitergemacht, nicht aus Trägheit oder Erfolgsgier, sondern weil er sich nicht vorstellen konnte, etwas anderes als Erzählungen nach alter Art zu schreiben, in denen das Meer immer die Hauptrolle spielte und die so bilderreich waren, dass sie sich ebenso tief ins Gedächtnis gruben wie Filme mit grandiosen Naturkulissen. Seine Leserschaft war immer weiter gewachsen. Und sie übernahm auch den Verkauf seiner Bücher: Wer eins seiner Bücher befriedigt zuklappte, kaufte gleich noch fünf oder sechs Exemplare zum Verschenken.
    Armel hatte an seinem Leben nichts geändert. Für ihn schien dieser Erfolg nicht zu existieren. Er bezog daraus keinerlei Selbstvertrauen und lehnte alle Interviews, Radio- und Fernsehsendungen, überhaupt alle Einladungen, über sich selbst zu sprechen, ab. Er war der Überzeugung, seine beeindruckenden Auflagen seien nur darauf zurückzuführen, dass er ein Schriftsteller für die Mediokren im lateinischen Sinne des Wortes sei, mit anderen Worten: ein banaler Schriftsteller. Mithilfe der »jährlichen Tankreinigung«, wie er es nannte, nämlich eines dicken Schecks für den Seenotrettungsdienst oder für eine

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