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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Füße. Ansonsten war ihr Körper nicht mehr zu identifizieren. Doch ich habe sie gleich erkannt, ihre kleinen Füße in den Kalbsleder-Ballerinas mit gekreuzten Riemchen, sie waren altrosa, wir hatten sie zwei Tage vorher zusammen gekauft. Mein Mann ist nicht mitgekommen.«
    »Sie brauchen mir nicht mehr zu sagen«, sagte Van.
    »Doch, ein bisschen mehr schon, dann ist alles gesagt. Sie müssen es wissen, denn jetzt ist das der Kern meiner Persön lichkeit, meine Identität, mein Name. Sie hieß Violette. Sie war siebzehn, als die Krankheit auf sie niederstieß wie ein Raubvogel. Bis dahin war sie ein unproblematisches Kind gewesen, das sich zu einer wunderbaren jungen Frau entwickelte. Und dann kam sie plötzlich aus der Schule und stieß unverständliche Sätze aus. Die Diagnose stand sofort fest. Sie bekam alle einschlägigen Therapien, die besten Ärzte. Doch nichts half. Es ging ihr immer schlechter. Ich hatte alles andere aufgegeben, um mit ihr zu kämpfen. Ich wich nicht von ihrer Seite. Sie wurde immer trauriger. Eines Abends ging sie früh zu Bett. Ich folgte ihrem Beispiel. Ich war erschöpft. Ihr Vater war nicht da. Er kam immer sehr spät nach Hause, solange ich mich erinnern kann. Ich hörte es nicht, als sie die Wohnung verließ.
    Das Verhältnis zwischen meinem Mann und mir war schon seit Langem schwierig. Er ist Geschäftsmann, intelligent und kalt. Violettes Tod hat uns einander nicht näher gebracht, im Gegenteil. Ich genügte ihm schon lange nicht mehr. Was er auch nicht mehr verbarg. Er ertrug meine Gesellschaft nicht mehr. Und außerdem vertritt er eine Art Belohnungsethik, die Pseudoethik eines hart arbeitenden Realisten, der meint, je härter das Leben sei, desto mehr Recht habe man auf Tröstungen.«
    Francesca tupfte sich mit dem Zeigefinger eine Träne von der Nasenspitze, dann sah sie Van an und sagte: »Eins noch, um Ihre Frage vollständig zu beantworten. Ich habe Jahre in Schwarz gelebt, bis ich vor zwei Jahren einen Traum hatte. Violette, ruhig, schön und gesund. Das war der erste Traum, in dem ich sie lebend sah. Ich hatte sie Hunderte von Malen gesehen, aber … anders … Sie bat mich, mit der Trauerkleidung aufzuhören. So sagte sie es, in ihrer Teenagerart: ›Jetzt hör endlich auf mit diesen Trauersachen.‹ Am nächsten Tag hörte ich auf.«
    Van nahm Francescas rechte Hand zwischen seine beiden, zog sie über den Tisch und küsste sie sanft. Sie schwiegen einige Sekunden lang.
    »Und jetzt Sie«, sagte Francesca.
    Ivan richtete sich auf.
    »In meinem Leben gab es keine Tragödien«, sagte er. »Wenngleich die Anfänge ein wenig melodramatisch waren. Doch mein eigenes Leben, wenn ich so sagen darf, mein Erwachsenenleben, war eher von Mittelmäßigkeit, Orientierungslosigkeit und Schlaffheit geprägt.«
    Francesca hatte drei Minuten über sich gesprochen. Van holte weiter aus. Vielleicht weil er ihr gegenüber Dankbarkeit empfand oder auch um ihre Einfachheit und ihren Mut zu honorieren, redete er lange und langsam.
    Mit zwanzig Jahren hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen. Er hatte keinerlei Kontakt mehr zu seiner Familie – einer armen und winzigen Familie, wie er sagte. Er hatte Englisch und Chinesisch studiert und Grundschullehrer werden wollen. Er fühlte sich der libertären Schule der Utopisten des 19. Jahrhunderts nahe. Das Rektorat hatte eine andere Vorstellung von Schule, seine Lehrerkarriere dauerte keine zwei Jahre. Dann ging er nach Amerika, wo er literarische Reisen zu den von den großen amerikanischen Schriftstellern geliebten und besungenen Orten organisierte.
    »Den Anstoß dazu gaben mir ihre Bücher. Ich verschlang Autoren wie Whitman und Thoreau. In jenem Jahr begann ich, sehr viel zu lesen.«
    Er las auch französische Romane. Frankreich fehlte ihm, er kehrte zurück. Er fand Arbeit bei einem Verleger von Comics, der noch in den Anfängen steckte, aber dank einem Erfolgsautor schließlich berühmt wurde. »Nennen wir ihn B.«, sagte er. »Der B.-Verlag, benannt nach seinem Verleger. Jeder kennt ihn.«
    Heffner zog ein Gesicht, als kenne er ihn nicht. Van fragte sich, ob Heffner sich als passionierter Leser aufspielen wolle, der die Texte zu sehr liebte, als dass er einen Comicband zur Hand nehmen könnte. Nein, sagte er sich, nein, der ist ehrlich, und fuhr mit seinem Bericht fort. Er sei bei diesem Verleger als Vertreter angestellt gewesen und habe die Buchhändler der östlichen Gebiete Frankreichs besucht, um die Comics bei ihnen

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