Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Cousinen ein Gebäude in der Rue Dupuytren, am Carrefour de l’Odéon.
»Ein schönes Gebäude aus dem 17. Jahrhundert«, sagte sie. »Wir könnten uns im Erdgeschoss und im ersten Stock einrichten.«
»Etwas Besseres kann man sich kaum vorstellen«, gab Van zu.
Francesca skizzierte die Räumlichkeiten auf der Rückseite ihrer Liste. Die Straße, die Tordurchfahrt, der Hof dahinter mit der Magnolie, das schon vorhandene Schaufenster, der Grundriss der Räume im ersten Stock.
»Und es ist frei?«, fragte Van.
Einige Jahre zuvor hatten Francescas Cousins und Cousinen darum gebeten, das bis dahin ungeteilte Gebäude in Einzeleigentum aufzuteilen. Francesca hatte sich als Einzige für das Ladenlokal im Erdgeschoss und die dazugehörige Wohnung im ersten Stock interessiert und dabei schon eine Idee im Hinterkopf gehabt. Sie bewunderte mehrere Künstler, die, wie sie wusste, große Schwierigkeiten hatten, sich durchzusetzen, einen Maler, einen Fotografen und zwei Bildhauer. Sie wollte ihnen gern die Möglichkeit bieten, in einer Galerie auszustellen. Francesca zögerte, nachdem sie das alles erzählt hatte. »Die nicht so teuer wäre«, sagte sie. »Sie verstehen?«
Ivan verstand. Absolut nicht teuer.
»Ich hatte etwas in der Zeitung gelesen, was ich wunderbar fand. Der große japanische Schriftsteller Oe hat einen Literaturpreis gestiftet, dessen Jury nur aus ihm besteht. Er traut der einflussreichen Kritik nicht und will einen Ausgleich schaffen, indem er verkannte Autoren unterstützt.«
Daher hatte Francesca begonnen, das Erdgeschoss zu einer Galerie umbauen zu lassen. Die Arbeiten waren schon recht weit gediehen, als der Plan geändert wurde.
»Eine Freundin, der ich davon erzählte, sagte: ›Mein Traum.‹ Ich überließ ihr die Räume. Ich hatte keine Wahl, und Sie werden verstehen, warum. Sie lebte schon lange allein und war verbittert. Zudem war sie kurz zuvor an Krebs erkrankt. Worauf sich der Geliebte, mit dem sie damals liiert war, empfahl, ein verheirateter Mann, der sich nur selten bei ihr blicken ließ, aber der einzige Mann in ihrem Leben. Sie war Soziologin und Dozentin an der Universität, doch sie war unzufrieden mit ihrer Aufgabe und sagte, sie habe ihr Leben verfehlt, ihre eigentliche Berufung sei die Kunst gewesen. In der Rue Dupuytren hatte sie carte blanche , sie konnte ausstellen, wen immer sie wollte. Ich konnte ihre Auswahl meist nicht verstehen, und ich hoffe, sie hat es nicht gespürt. Doch darum ging es ja auch nicht. Die ganze Sache blieb erfolglos. Und sie weckte bei dieser Freundin auch keine Lebensfreude, sondern ganz im Gegenteil eher eine Art Groll auf mich. Im letzten Frühjahr starb sie, unversöhnt. Ich brachte es nicht übers Herz, das Ladenlokal gleich wieder zu nutzen.«
»Und nun?«, fragte Van. »Werden Sie es nun nutzen?«
»Es wäre widersinnig, es nicht zu tun.«
Sie sprachen über die Einrichtung, die Anordnung der Bücher, die Wege innerhalb der Buchhandlung. Am einfachsten war immer noch, die Bücher nach Ländern und dann alphabetisch zu ordnen. Oder chronologisch?, überlegte Van. Alle drei Ordnungsprinzipien dachte Francesca. »Zum Beispiel«, sagte sie, »England, 19. Jahrhundert und dann die Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Van, was halten Sie von Sitzgelegenheiten in Buchhandlungen? In der Schweiz und in Deutschland sind häufig Sofas zwischen den Regalen aufgestellt.«
Nach diesem Abendessen waren sie wie berauscht. Tags darauf erzählten sie einander, sie hätten äußerste Einschlafschwierigkeiten gehabt. Vor Aufregung. Vor Freude.
15
A m siebten Abend sprachen sie weder über Romane noch über Autoren. Über nichts Drittes. Sie sprachen über sich selbst und ihre Vergangenheit. Das hatten sie nicht vorgehabt, es ergab sich so. Sie hatten sich gerade zu Tisch gesetzt, da fragte Ivan fröhlich: »Tragen Sie immer helle Farben? Ich habe Sie bisher nur in Beige, in Weiß und in Blassgrün gesehen.«
In Francescas Augen standen plötzlich Tränen. »Ich habe vier Jahre lang nur Schwarz getragen«, sagte sie. »Und seit zwei Jahren trage ich überhaupt kein Schwarz mehr. Ich kann es Ihnen genauso gut gleich sagen, vor sechs Jahren habe ich meine Tochter verloren. Sie war neunzehn. Sie hat sich vor einen Zug geworfen, zwischen Vanves und Chaville, in der Nähe von Paris. Sie ist nachts von der Gare Montparnasse aus an den Gleisen entlanggegangen. Alles, was man mir zeigte, als man im gerichtsmedizinischen Institut das Laken anhob, waren ihre
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