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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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Montmartre, nachdem sie den Vormittag damit zugebracht hatten, auf ihren Ansprechpartner zu warten – in diesem Fall eine junge Ansprechpartnerin, schneidender als ein venezianischer Dolch, die ihnen knapp eine Minute, nachdem sie sie in ihr Büro geführt hatte, erklärte, sie seien einer falschen Auskunft aufgesessen und müssten sich an jemand anders wenden. Nun standen sie, plötzlich völlig ermattet, auf einem nahe gelegenen eher hässlichen Platz, einem Auswuchs der Rue du Louvre, jedem Windzug ausgesetzt, aber von Sonnenlicht überflutet. Ein optimistischer Wirt hatte zwei Tische, vier Stühle und einen Sonnenschirm auf dem Gehweg aufgebaut.
    »Ich habe Hunger«, sagte Francesca. »Ehrlich gesagt, brauche ich als Gegengewicht zu diesem tristen Vormittag ein ordentliches Mittagessen. Austern und kühler Wein brächten mich jetzt am besten wieder in Form. Wollen wir uns nicht hier hinsetzen?«
    Van mochte Meeresfrüchte – vor allem mochte er das Wort, wie er sagte –, aber seiner Ansicht nach eignete sich ein kräftiges Sauerkraut mit Fleischbeilage besser dazu, den administrativen Verdruss aufzuwiegen.
    »Wissen Sie, dass Karen Blixen am Ende ihres Lebens nur noch Austern aß?«, fragte er, während er einen Stuhl für Francesca zurechtrückte. »Manche halten es für Snobismus, zumal sie nur Champagner dazu trank. In Wahrheit aber war sie krank. Berühmt, zu beiden Seiten des Atlantiks gefeiert, an Syphilis leidend und bis aufs Skelett abgemagert, aber vielleicht endlich glücklich. Ich liebe ihre Erzählungen .«
    »Ja, diese Anmut. Diese Eleganz in der Verzweiflung. Da gibt es einen Satz von ihr, es ist einer der verzweifeltsten, die ich kenne. Als sie Bror Blixen, den sie genauso wenig liebte wie er sie, geheiratet hatte, überzeugte sie ihn davon, Dänemark, wo es weder für ihn noch für sie Gründe gab zu bleiben, gemeinsam zu verlassen, und sie sagte – ich zitiere es aus dem Gedächtnis: ›Wenigstens das werden wir getan haben, wir werden weggegangen sein.‹«
    Francesca verstummte. Als Van sie plötzlich so abwesend, so nachdenklich sah, frappierte ihn die Ähnlichkeit zwischen ihr und Karen Blixen, als diese im selben Alter gewesen war. Er erstarrte bei dem Gedanken, dass auch Violette den Wunsch gehabt hatte wegzugehen, den verzweifelten Wunsch, und dass sie gegangen war.
    Francesca schien seine Gedanken gelesen zu haben, denn sie lächelte ihm zu, was sie sichtlich Mühe kostete, und fragte: »Waren Sie je verheiratet, Van?«
    »Niemals.«
    Van neigte im Allgemeinen nicht zu Vertraulichkeiten, doch jetzt war er froh, das Gespräch auf ein anderes Thema bringen zu können.
    »Gott weiß, dass ich die Frauen liebe, dass ich Frauen geliebt habe und dass manche mich nicht verlassen wollten. Aber ich habe keiner von ihnen je genug Hoffnung gelassen, dass sie von Heirat zu sprechen oder auch nur daran zu denken gewagt hätte, höchstens an ein Zusammenleben. Hoffnung ist nicht das richtige Wort, man müsste von Reellem, Handfestem sprechen. Was ich zu bieten habe, ist nicht so reell, dass eine Frau sich vorstellen könnte, etwas damit anzufangen, geschweige denn, auf einem so brüchigen Fundament etwas aufzubauen. Den wenigen, die sich für mich interessierten, habe ich immer mehr Instabilität als Sicherheit geboten, keine Projekte, sondern Seifenblasen … Zaubertricks habe ich mit ihnen ganze Nächte lang gemacht, aber Kinder, nein, die wollte ich nie.
    Das übliche Leben und alles, was daraus folgt, war nie ein Weg für mich. Darauf bin ich nicht stolz. Es ist keine Entscheidung meinerseits, es ist Unfähigkeit, vielleicht eine Art Phobie. Ich weiß zu genau, dass ich eine Frau, die mir Vertrauen entgegenbrächte, enttäuschen würde.
    Ich wurde durch meine ersten Lebensjahre und die Art der Bindung an meine Mutter stark geprägt. Das ist banal. Aber was an uns banal ist, ist zugleich für jeden von uns seine stärkste Seite, nicht wahr? Ich habe einmal auf eine ärmliche Kindheit angespielt. Ärmlich vor allem in affektiver Hinsicht, und meine Mutter hat stärker unter mangelnder Zuwendung gelitten als ich. Sie war zwei Mal liiert. Mit neunzehn heiratete sie den Mann, der sie geschwängert hatte, meinen Vater. Unnötig, mehr zu sagen. Als ich vier war, ließ er uns sitzen, sie und mich – gerade so spät, dass ich schon ermessen konnte, worum es ging und welchen Verlust es bedeutete. Meine Mutter fiel in einen Abgrund. Sie hatte keine Familie, keinerlei Unterstützung, sie arbeitete in

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