Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
überwachen. Er machte es sich zur Gewohnheit, um dieselbe Zeit hinunterzugehen und sich kurz mit ihr zu unterhalten. »Kommen Sie doch mit nach oben«, sagte er dann oft. »Oben haben wir Ruhe.«
Er war es, der Francesca bat, ebenfalls einen Schreibtisch und ihre Unterlagen in dem großen Büro unterzubringen. »Sie können mich doch nicht ganz allein lassen«, erklärte er. »Ich brauche ständig Ihre Meinung zu allem Möglichen. Unser Projekt ist ja nicht so einfach.« Er meinte es ehrlich.
Francesca stellte ihren Schreibtisch an das entgegengesetzte Ende des Raums. Zwischen ihrem und Vans Schreibtisch ließ sie drei Clubsessel und einen niedrigen Tisch aufstellen.
»Oder bräuchten wir einen größeren Tisch?«, fragte sie. »Eine Art Konferenztisch mit Stühlen?«
»Wozu?«, fragte Van. »Hier werden wir nie Sitzungen abhalten. Anderswo übrigens auch nicht. Für uns beide sind die Sessel genau richtig.«
Sie setzten sich hinein und diskutierten. Ivan, der schon lange nicht mehr so viel Geld verdient hatte, brachte morgens oft eine Flasche Kefir oder Muskatwein mit. Francesca trank gern warme Getränke. Auf dem Treppenabsatz ließ sie als Kombüse – das war ihre Bezeichnung dafür – einen Verschlag bauen. Dort standen ein kleiner Kühlschrank, eine elektrische Kochplatte, eine Kaffeemaschine, eine Teekanne, eine Zitronenpresse, Gläser, Tassen und ein altes Holzschränkchen, das sich hervorragend als Vorratsschrank eignete und in dem sich schon bald auf wundersame Weise Amarettini, schottische Haferkekse, Schokolade, getrocknete Feigen und andere überlebenswichtige Nahrungsmittel ansammelten.
Wie es oft bei mageren Menschen vorkommt, kaute auch Van von morgens bis abends auf irgendetwas herum. Er trank viel, vorwiegend Milch. Francescas Treibstoff war, unabhängig von der Tageszeit, abwechselnd Tee und Kaffee. Sie brachte Van das Teekochen auf indische Art bei, das heißt ohne einen Tropfen Wasser – mit viel sehr gutem Tee, Zucker und Gewürzen versetzte Milch lange kochen lassen.
Rue Dupuytren, bemerkte Ivan eines Tages, das sagte ihm irgendwie etwas. Und jetzt hatte er herausgefunden, was. In der Rue Dupuytren Nr. 8 hat Sylvia Beach 1919 ihre erste Shakespeare-&-Company-Buchhandlung eröffnet. Und als sie in die Rue de l’Odéon umzog, übernahm jemand aus dem Umkreis von Gaston Gallimard, Gustave Tronche, die Räumlichkeiten und eröffnete ebenfalls eine ganz besondere Buchhandlung, die Nouvelle Librairie Bibliothèque . Mit so viel Erfolg übrigens, dass er danach noch sechs weitere eröffnete.
Als Eigentümerin von Grund und Bauwerk regelte Francesca alles mit den Behörden, mit dem Handelsgericht, der Steuerbehörde, der Sozialversicherung und dem Arbeitsmedizinischen Dienst.
»Ich würde Sie gern begleiten«, sagte Van.
»Weshalb denn?«
»Um des Vergnügens willen.«
»Vergnügen? Das sind Bußgänge!«
»Um des Vergnügens willen, mit Ihnen zusammen zu sein.«
Francesca ging sehr gern zu Fuß. Auch weil sie Paris so liebe, erklärte sie. Van legte an ihrer Seite Kilometer zurück. Er bemerkte ihre Vorliebe für flache Schuhe, in denen sie weit ausschreiten konnte, für Umhängetaschen, in die mindestens zwei bis drei Bücher passten, für perfekt geschnittene Kleidung, deren Schlichtheit an Strenge grenzte, und für Schals und Stolen, die sie immer nur über eine Schulter warf, sodass sie lang hinter ihr herflatterten. Sie war außerordentlich auffallend mit ihrer hohen Stirn, den hohen Wangenknochen, ihrer schmalen Gestalt und dem raschen Gang. Was sie jedoch nicht zu wissen schien. Van hatte es nie erlebt, dass sie in einen Spiegel sah oder ihr Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe prüfte. Und er begriff, dass ihr genau diese Selbstverliebtheit fehlte. Auf der Straße drehte sich niemand nach ihr um, weil sie nicht von sich selbst hingerissen war wie die Frauen, die sich in den Schaufensterscheiben spiegeln und sich an ihrer schmalen Taille, der Frisur oder den wiegenden Hüften weiden. Van fand sie außerordentlich sympathisch, und so formulierte er es auch, wenn er sie in einem Satz zu beschreiben versuchte. »Sympathisch?«, wurde jedes Mal nachgefragt.
»Ja«, sagte er dann mit Feuer, »abgesehen davon, dass sie die Schönheit selbst ist und die fraugewordene Eleganz, Hochherzigkeit und Leidenschaft, ist sie ganz einfach Mensch, ein feines Mädchen und nett wie nur was.«
An einem Tag Anfang März verließen sie die Direktion für Arbeit und Arbeitskräfte in der Rue
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