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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Cossé
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einer Fabrik.
    Ich war sieben, als sie den Mann traf, der zu ihrem Lebenspartner wurde. Sieben Jahre: Genau das Alter, in dem es einen zutiefst kränkt, wenn man sieht, dass man seiner Mutter nicht mehr genügt, dass ihr jemand anders wichtiger ist. Lassen wir das. Dieser Mann war sehr liebevoll. Arbeiter, wie meine Mutter, hässlich, kränklich, voller Talente – er konnte wunderbar singen – und durch und durch gut. Ich glaube, er schenkte meiner Mutter, was sie sich erhoffte, bedingungslose Zuneigung. Doch nach fünf Jahren starb er. Er war doppelt so alt wie meine Mutter. Als junger Mann, 1942, war er deportiert worden. Er kam sehr geschwächt aus Deutschland zurück und erholte sich nie wirklich davon. Er starb mit fünfundfünfzig Jahren. Sie sagte es nicht, sie wusste es vielleicht nicht einmal, aber sie erwartete von mir, ich würde die Leere in ihrem Leben füllen. Dazu war ich nie imstande. Es war mein Traum, sie glücklich zu sehen, doch bei dem Gedanken, ich sei dafür zuständig, begehrte etwas in mir auf. Ich tat das Gegenteil dessen, was nötig gewesen wäre. In der Schule brachte ich nichts zustande. Abends war ich nie zu Hause. Mit zwanzig Jahren lief ich davon.
    Zwei Jahre darauf starb sie. Ich hatte sie nicht wiedergesehen. Hin und wieder hatte ich sie angerufen, doch das Gespräch ging jedes Mal schief. In ihrer Stimme lag so viel Erwartung, sie machte mir keine Vorwürfe, doch sie erbat so viel von mir, dass ich ausweichend und distanziert reagierte und bald auflegte. Sie hat mir kein einziges Mal gesagt, dass sie krank war.
    Aus dieser Zeit ist mir etwas Furchtbares geblieben: Ich will nicht, dass man sich auf mich verlässt. Denn ich weiß, dass ich mich früher oder später entziehen werde. Ich sage es immer von Anfang an. Ich habe nicht das nötige Format, um die Verantwortung für eine Frau zu übernehmen.
    Und ich organisiere mein Leben entsprechend, ich merke es genau. Ich verliebe mich alle sechs Monate. Auf meine Weise bete ich die Frauen an. Wenn ich ihrem Charme erliege, sieht man es mir vermutlich an. Sie ermutigen mich. Ich lasse sie näher an mich heran. Ich liebe sie, solange sie nichts von mir verlangen. Doch wenn sie Arm in Arm mit mir vor einem Schaufenster mit Babywäsche stehen bleiben, mir einen Ring schenken oder, schlimmer noch, einen von mir erbitten – dann mache ich kehrt. Ich halte mir die Ohren zu und renne, so schnell ich kann.
    Sie sehen. Liebe auf den ersten Blick, Tändeln, Balzen, Süßholzraspeln. Und dann reiße ich das Ruder herum. Volle Kraft zurück. Tränen und Vorwürfe ihrerseits. Und meinerseits Bedauern, Scham, Erleichterung. Viel Erleichterung.«
    Van hatte während des Sprechens ins Leere gesehen. Nun wandte er seinen Blick Francesca zu.
    »Es gibt hübschere Geschichten. Ich betrachte mich als Gefühlskrüppel.«
    Francesca antwortete nicht. Sie hatten beide ihren Teller leer gegessen und schwiegen noch eine Weile.
    »Möchten Sie noch etwas anderes?«
    Van schüttelte den Kopf. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass ein Satz von Francesca mehrere Bedeutungen hatte.

18
    D ie erste Liste kam Anfang März, die zweite zehn Tage später. Jean Tailleberne und Sarah Gesteslents hatten nicht getrödelt.
    »Es ging nicht anders«, sagte Tailleberne. »Die Auswahl fiel mir nicht leicht. Titel und Autoren gingen mir Tag und Nacht durch den Kopf. Das war der einzige Ausweg.«
    Er war etwa vierzig, ein schöner, großer, blonder Junge mit lavendelblauen Augen, schüchtern und freundlich. Er wohnte nordwestlich von Paris, in Maule, doch in diesem Winter arbeitete er in der Nationalbibliothek. Van hatte ihn zum Mittagessen in ein Lokal seiner Wahl eingeladen, irgendwo im Viertel, und Tailleberne hatte ein Restaurant vorgeschlagen, über das er weiter nichts wusste, dessen Namen er aber interessant fand, das Vila Real .
    Van hatte darauf bestanden, dass Francesca ihn begleitete. Auch danach, als die übrigen sieben Listen eintrafen, wollte er jedes Mal, dass sie mitkam. In Anbetracht der Spielregeln, an die sich die großen Juroren halten mussten, war zu befürchten, dass es keine weitere Möglichkeit mehr geben würde, ihnen zu begegnen. Francesca hatte unter der Bedingung zugestimmt, dass Ivan die Hälfte ihres Namens verschwieg und sie ohne weitere Erläuterungen nur als Francesca Aldo und Mitgeschäftsführerin der Buchhandlung vorstellte.
    Das Vila Real war ein portugiesisches Restaurant, es gab Stockfisch-Spezialitäten. Francesca bestellte

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