Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Platz ist ja genug, und wir werden vermutlich Kunden aller Art haben, betuchte, weniger betuchte, gelehrte, neu bekehrte, besessene …«
Die Arbeiten wurden abgeschlossen. Von dem schönen Ladenlokal im Erdgeschoss waren zwei Drittel renoviert worden. Für den übrigen Platz gab es noch keine Verwendung. Ihn würde man erst nutzen, falls Der gute Roman erweitert würde. In der Zwischenzeit könnte man vielleicht einen kleinen Vortragsraum daraus machen, dachte Francesca, Diskussionsrunden oder Begegnungen mit Schriftstellern fänden bestimmt ein Publikum. Es sei denn, wir behalten dieses Drittel als Abstellraum. Nun, das würde man sehen.
Die Buchhandlung war sehr schön und wirkte ohne die Bücher unverhältnismäßig groß. In der Tat würde sie für die vier- oder fünftausend als Anfangsbestand vorgesehenen Titel zu groß sein, deshalb waren an zwei Wänden entlang Bänke aufgestellt worden. In einer Ecke stand in einem Kübel ein großer Feigenbaum. Francesca hatte wunderschöne Tische bei einem jungen Schreiner bestellt, der sich schon seit Jahren auf das Quadrat verlegt hatte, quadratische Beine, Kombinationen von Quadraten, aus zwei Quadraten gebildete Rechtecke, aus vier Quadraten gebildete Quadrate. Quadrate, nicht Würfel, betonte der junge Mann mit fast religiösem Ernst.
»Also Tische …« Van war nicht einverstanden. »Was soll denn unsereiner darauflegen? In den herkömmlichen Buchhandlungen liegen die Neuheiten auf den Tischen, das Grundsortiment steht in den Regalen an den Wänden. Aber wir haben doch sehr wenig Neuheiten …«
Francesca hatte sich diese Frage schon gestellt.
»Ich schlage vor, wir legen unsere Lieblinge auf den Tischen aus, Ihre und meine. Ganz gleich, ob sie vor zehn oder hundert Jahren oder gerade eben erst erschienen sind.«
»Aber definitionsgemäß sind alle Bücher in unserer Buchhandlung unsere Lieblinge.«
»Aber doch mehr oder weniger. Unter Ihren Lieblingsbüchern gibt es einige, die ich persönlich besser finde als die anderen. Und Sie wissen doch, wie es mit Marotten ist, die kommen und gehen. Wir werden eben immer etwas anderes auf den Tischen auslegen.«
Van schickte die ersten Bestellungen an die Verlage. Die Bücher kamen. Und jedes Paket war wie ein Geschenk für Francesca.
Die sechs Monate vor der Eröffnung der Buchhandlung sollten ihnen beiden als ein langer Frühling in Erinnerung bleiben. Alles schien so einfach, so glückend, so kühn und notwendig, so sehr im Dienst einer herrlichen Zukunft.
»Ich verstehe«, sagte Heffner unverhofft, in einem Ton, der vermuten ließ, er spreche zu sich selbst. »Einer dieser Frühlinge, wie sie einem nur ein oder zwei Mal im Leben vergönnt sind.«
19
V an hatte sein Atelier in der Rue de l’Agent-Bailly liebgewonnen. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, anderswo als in Paris zu leben. Vor das große Fenster stellte er die erste Möbelerwerbung seines Lebens, einen Sessel unbestimmbaren Alters, dessen Armlehnen so breit waren, dass man darauf außer den Armen und Nahrung für mehrere Stunden auch fünf oder sechs Bücher je Lehne unterbringen konnte.
Dass er in einem Raum lebte, in dem wahrscheinlich schon viel gezeichnet und gemalt worden war, brachte ihn auf eine Idee, sie stieg ihm zu Kopf, wie einem die hartnäckigen Terpentinausdünstungen eines Raums langsam zu Kopf steigen können. Er bekam Lust, ein Bild auf die beiden tür- und fensterlosen Wände zu malen, die aneinanderstießen, sodass er sie zu einem einzigen, etwa zwei Meter hohen und fünf Meter breiten Gemälde nutzen konnte.
So weit war er mit seinem Projekt gediehen – also noch nicht bis zum Konzept, eher bis zur Konzeption des Konzepts –, als er Anis’ Antwort erhielt.
Es war im Mai 1901. Der Schutzmann Gaston Bailly versah seinen Dienst vor der Nationalversammlung, als ein Menschenauflauf auf dem ganz nahe gelegenen Pont de la Concorde ihn dazu bewog, seinen Posten zu verlassen. »Ein junges Mädchen hat sich ins Wasser gestürzt!«, schrien die Gaffer. Vom Temperament und seinen Überzeugungen her gehörte Bailly zu den Leuten, die denken: ihr gutes Recht. Doch die Schaulustigen waren anderer Meinung. »Man muss sie rausholen«, riefen sie. »Los, springen Sie hinterher, Herr Schutzmann.« Bailly, ein vernünftiger Mann, beeilte sich nicht. »Wo ist sie?«, erkundigte er sich. »Ich kann sie nirgends sehen.« »Sprin-gen, sprin-gen!«, skandierte die Menge, niemand machte sich die Mühe, auf seine Frage zu antworten. Die
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